Dienstag, 31. Oktober 2017

Gedicht für November: 'Hamlet' von Boris Pasternak (update 2.08.2020)




                                           Hamlet

Der Lärm verstummt. Ich bin auf der Bühne.
Am Türpfosten lehnend
Höre ich im fernen Echo,
was geschehen wird in meiner Zeit.

Durch das Halbdunkel starren Augen
Auf mich durch tausend Operngläser.
Lieber Vater, hab Erbarmen,
lass diesen Kelch an mir vorüber gehen.

Ich liebe deine fixe Idee
Und bin bereit für diese Rolle,
doch wird jetzt ein anderes Stück gespielt,
für dieses Mal, mein Vater, stell mich frei.

Doch ist die Handlung vorgegeben,
der Reise Ende unabwendbar.
Ich bin allein. Die Welt versinkt in Falschheit.
Das Leben ist kein Spaziergang.

Boris Pasternak (1957)


Der Sprecher spielt die Rolle des Hamlet in William Shakespeares Tragödie. Vor der Bühne aus nimmt er die Zuschauer im Parkett und auf den Rängen wahr. In diesem Moment fühlt er sich auch als Schauspieler, als Person in ihrer Zeit, für die die Stimmung im Saal zukunftsentscheidend ist. Da die Zuschauer im Halbdunkel sitzen, sind sie selbst verborgen und bleiben daher unerkannt. Der Sprecher beschreibt sie als aufmerksame Beobachter, die durch ihre Operngläser auf ihn starren. Er spürt, dass sie nicht nur an seinem Spiel sondern auch an seiner Person interessiert sind, so dass der Kontext einer Überwachungssituation mit ihrer Atmosphäre des Unheimlichen, Bedrohlichen evoziert wird.[1]
Der sozio-historische Hintergrund ist die Sowjetunion der Stalinzeit. Das Gedicht dramatisiert die Situation des Individuums in einem totalitären Staat. Wie ein Schauspieler nimmt das Individuum die ihm zugewiesene Rolle an. Der Freiheit des Redens und Handelns beraubt, erkennt es, dass sein weiteres Leben wie die Handlung eines Theaterstücks vorgegeben ist, welches zwischendurch auf Grund der Willkür der Herrschenden umgeschrieben werden kann.
In Shakespeare´s Hamlet wird der Protagonist ebenfalls mit Forderungen konfrontiert, bestimmte Rollen zu spielen, und er versucht zunächst, sich nicht vereinnahmen zu lassen, sondern sich erstmal über seine Situation klar zu werden und sein eigenes Spiel zu spielen. So zögert er die Erfüllung des Racheauftrags seines Vaters hinaus. Später entkommt er durch eine List einem Anschlag seines Onkels, des neuen Königs. Schließlich lässt er sich doch auf die für ihn vorgesehene Rolle in einer Intrige des Königs ein und wird dabei tödlich verletzt. Am Ende scheint es, als hätte er nicht wirklich eine Wahl, ob er mitspielt oder nicht. Das Schicksal des Prinzen liegt nicht in seiner eigenen Hand.
In Pasternaks Gedicht finden die Qualen des Sprechers/Schauspielers Ausdruck in der Anrufung ‚Abba, wenn es dir nur möglich ist, lass diesen Kelch an mir vorüber gehen‘. Es sind die Worte eines anderen Sohns, Jesus Christus, der ebenfalls an der Rolle zweifelt, die ihm sein Vater zugewiesen hat. Das Zitat stammt aus dem Evangelium des Matthäus, Kapitel 26, das von den Erfahrungen Jesu im Garten Gethsemane kurz vor seiner Festnahme erzählt. Die existentielle Situation des Ausgeliefert seins an eine Machtinstanz verbindet das Gedicht, die Bibelstelle und das titelgebende Theaterstück.
Jesus fleht seinen Vater an, ihm das vorgesehene Schicksal zu ersparen, fügt sich aber schließlich, wissend, dass er den Lauf der Dinge nicht stoppen kann und dass sein Verräter schon bereit steht, ihn auszuliefern. Die Erfahrung von existenzieller Angst, innerer Auflehnung und schließlich Resignation in Erwartung des Unabwendbaren sind für die Leser nachvollziehbar und spürbar. Während sich Jesus jedoch sicher sein kann, dass sein Opfer einen Sinn hat und er nach seinem Tod seine Position als Gottes Sohn wieder einnehmen wird, bringt das von dem Schauspieler erwartete Ende keine Erlösung. Statt dessen sieht er sich einer Übermacht von arroganten und heuchlerischen Zeitgenossen gegenüber, die mit ihrer Bereitschaft, abweichendes Verhalten an die Behörden zu melden, dazu beitragen, dass die totale Herrschaft gefestigt wird. Das Versprechen einer sinnvollen Existenz im kommunistischen Staat der Sowjetunion wird nicht eingehalten.
Julian Barnes zitiert Pasternaks Gedicht ‚Hamlet‘ in seinem 2016 erschienenen biographischen Roman The Noise of Time (Der Lärm der Zeit), der in erlebter Rede von der Auseinandersetzung des Komponisten Schostakowitsch mit der sowjetischen Staatsmacht erzählt.[2] Die Erfahrung von Fremdbestimmung ist dabei ein zentrales Thema. Die staatliche Zensur erzeugt einen hohen Druck, sich anzupassen und das beängstigende Wissen, nur unter Lebensgefahr vom vorgegebenen Ideal abweichen oder gar ausbrechen zu können, ist ständig präsent. Dies führt zur Selbstzensur, zu vom Komponisten als entwürdigend empfundenen Zugeständnissen. 

Und das war vielleicht ihr letzter Sieg über ihn. Statt ihn zu töten, erlaubten sie ihm zu leben, und indem sie ihm erlaubten zu leben, hatten sie ihn getötet. Das war die letzte, unauflösbare Ironie seines Lebens: dass sie ihn getötet hatten, indem sie ihm erlaubten zu leben.
The Noise of Time, 177 [meine Übersetzung]

In einer Gesellschaft, in der die Kunst vom Staat instrumentalisiert wird und es keine Freiheit des Ausdrucks gibt, kann Literatur dennoch zum Medium des Widerstands werden. Eindrücklich schildert Barnes Boris Pasternaks Lesungen von Shakespeares Sonett 66:
Wenn Pasternak das ‚Sonnet 66‘ vortrug, wartete das Publikum während der ersten acht Verse gespannt auf den neunten, ‚[…] wie Macht die Kunst zum Schweigen bringt […]‘, in den sie mit einfielen, manche leise, manche flüsternd, die mutigsten unter ihnen im Fortissimo, aber alle widerlegten ihn und weigerten sich zu schweigen.
The Noise of Time (93-94)

Shakespeares Tragödien Hamlet und Macbeth galten als potentiell subversiv.
Aber die Tyrannen hassten und fürchteten das Theater noch mehr als die Lyrik. Shakespeare hielt der Natur den Spiegel vor und wer könnte es ertragen, sein eigenes Spiegelbild zu sehen? So war Hamlet lange Zeit verboten. Stalin hasste das Stück fast genauso sehr wie er Macbeth hasste. (88)

Die Tragödien überlieferten ein nicht gerade schmeichelhaftes Bild eines Herrschers, mit dem sich der Diktator vergleichen musste. Die Könige kommen durch Königsmord an die Macht, planen Intrigen, um ihre Macht zu erhalten und werden am Ende getötet. Die Zuschauer konnten in diesen Königen Züge ihrer eigenen Machthaber wiedererkennen und verspürten vielleicht eine grimmige Freude an der impliziten Kritik. So entfalteten diese rund 350 Jahre alten Texte über die zeitliche Distanz hinweg bei den Zuschauern eine kathartische Wirkung. Pasternaks Gedicht ‚Hamlet‘ spielt auf diese Erfahrung an. Aufgrund der gesellschaftspolitischen Umstände hat sein Sprecher jedoch noch weniger Handlungsspielraum als Shakespeares Hamlet.


[1] Die Konstellation erinnert an das Konzept des Panoptikums, das der englische Philosoph Jeremy Bentham (1748-1832) zur effizienteren Überwachung in Gefängnissen entworfen hat.
[2] Erlebte Rede ist eine Erzähltechnik, bei der in der dritten Person aber aus der Perspektive einer Figur, in diesem Fall der Schostakowitschs, erzählt wird.


Boris Pasternak (1957). Boris Pasternak war ein russischer Dichter. Er lebte von 1890 bis 1960.
Übersetzung von Gudrun Rogge-Wiest.



Anhang:



Sonnet 66

Tir´d with all these, for restful death I cry
As to behold desert a beggar born,
And needy nothing trimm´d in jollity,
And purest faith unhappily forsworn,

And gilded honour shamefully misplac´d
And maiden virtue rudely strumpeted,
And right perfection wrongfully disgraced,
And strength by limping sway disabled,

And art made tongue-tied by authority,
And folly – doctor-like – controlling skill,
And simple truth miscall´d simplicity,
And captive good attending captain ill;

Tir´d with all these, from these would I be gone,
Save that, to die, I leave my love alone.

William Shakespeare (1609) Die Sonette, Insel Taschenbuch, 1993