Sonntag, 17. März 2019

Text für Februar 2019: aus Thomas Mann, Der Zauberberg, „Fülle des Wohllauts“



Thomas Mann, Der Zauberberg, „Fülle des Wohllauts“, 
Zum Lied ‚Der Lindenbaum‘ aus Franz Schubert/Wilhelm Müller ‚Die Winterreise‘




Für jetzt kommen wir auf ein fünftes und letztes Stück aus der Gruppe der engeren Favoriten, - welches nun freilich gar nichts Französisches mehr war, sondern etwas sogar besonders und exemplarisch Deutsches, auch nichts Opernhaftes, sondern ein Lied, eines jener Lieder, - Volksgut und Meisterwerk zugleich und eben durch dieses Zugleich seinen besonderen geistig-weltbildlichen Stempel empfangend … Wozu die Umschweife? Es war Schuberts „Lindenbaum“, es war nichts anderes, als dies allvertraute „Am Brunnen vor dem Tore“.
                  […]

Wir wollen es so stellen: Ein geistiger, das heißt ein bedeutender Gegenstand ist eben dadurch „bedeutend“, daß er über sich hinausweist, daß er Ausdruck und Exponent eines Geistig-Allgemeinen ist, einer ganzen Gefühls- und Gesinnungswelt, welche in ihm ihr mehr oder weniger vollkommenes Sinnbild gefunden hat, - wonach sich denn der Grad seiner Bedeutung bemißt. Ferner ist die Liebe zu einem solchen Gegenstand ebenfalls und selbst „bedeutend“. Sie sagt etwas aus über den, der sie hegt, sie kennzeichnet sein Verhältnis zu jenem Allgemeinen, jener Welt, die der Gegenstand vertritt, und die in ihm, bewußt oder unbewußt, mitgeliebt wird. […]
Ei ja, ja, ja, das war recht schön, so mußte wohl jeder Redliche sprechen. Und dennoch stand hinter diesem holden Produkte der Tod. Es unterhielt Beziehungen zu ihm, die man lieben mochte, aber nicht ohne sich von einer bestimmten Unerlaubtheit solcher Liebe ahnungsvoll-regierungsweise Rechenschaft zu geben. Es mochte seinem eigenen ursprünglichen Wesen nach nicht Sympathie mit dem Tode, sondern etwas sehr Volkstümlich-Lebensvolles sein, aber die geistige Sympathie damit war Sympathie mit dem Tode, - lautere Frömmigkeit, das Sinnige selbst an ihrem Anfang, das sollte auch nicht aufs Leiseste bestritten werden; aber in ihrer Folge lagen Ergebnisse der Finsternis.
Was redete er sich da ein! – Er hätte es sich von euch  nicht ausreden lassen. Ergebnisse der Finsternis. Finstere Ergebnisse. Folterknechtssinn und Menschenfeindlichkeit in spanischem Schwarz mit der Tellerkrause und Lust statt Liebe – als Ergebnis treublickender Frömmigkeit.
Wahrhaftig, der Literat Settembrini war nicht eben der Mann seines unbedingten Vertrauens, aber er erinnerte sich einiger Belehrung, die der klare Mentor ihm einst, vor Zeiten, am Anfang seiner hermetischen Laufbahn, über „Rückneigung“, die geistige „Rückneigung“ in gewisse Welten hatte zuteil werden lassen, und er fand es ratsam, diese Unterweisung mit Vorsicht auf seinen Gegenstand zu beziehen. Herr Settembrini hatte das Phänomen jener Rückneigung als „Krankheit“ bezeichnet, - das Weltbild selbst, die Geistesepoche, der die Rückneigung galt, mochte seinem pädagogischen Sinn wohl als „krankhaft“ erscheinen. Wie denn nun aber! Hans Castorps holdes Heimwehlied, die Gemütssphäre, der es angehörte, und die Liebesneigung zu dieser Sphäre sollten – „krank“ sein?
Mitnichten! Sie waren das Gemütlich-Gesundeste auf der Welt. Allein das war eine Frucht, die frisch und prangend gesund diesen Augenblick oder eben noch, außerordentlich zu Zersetzung und Fäulnis neigte, und, reinste Labung des Gemütes, wenn sie im rechten Augenblicke genossen wurde, vom nächsten unrechten Augenblicke an Fäulnis und Verderben in der genießenden Menschheit verbreitete. Es war eine Lebensfrucht, vom Tode gezeugt und todesträchtig. Es war ein Wunder der Seele, - das höchste vielleicht vor dem Angesicht gewissenloser Schönheit und gesegnet von ihr, jedoch mit Mißtrauen betrachtet aus triftigen Gründen vom Auge verantwortlich regierender Lebensfreundschaft, der Liebe zum Organischen, und Gegenstand der Selbstüberwindung nach letztgültigem Gewissensspruch.
Ja, Selbstüberwindung, das mochte wohl das Wesen der Überwindung dieser Liebe sein – dieses Seelenzaubers mit finsteren Konsequenzen! Hans Castorps Gedanken oder ahndevolle Halbgedanken gingen hoch, während er in Nacht und Einsamkeit vor seinem gestutzten Musiksarge saß, - sie gingen höher, als sein Verstand reichte, es waren alchimistisch gesteigerte Gedanken. O, er war mächtig, der Seelenzauber! Wir alle waren seine Söhne, und Mächtiges konnten wir ausrichten auf Erden, indem wir ihm dienten.
Man brauchte nicht mehr Genie, nur viel mehr Talent, als der Autor des Lindenbaumliedes, um als Seelenzauberkünstler dem Liede Riesenmaße zu geben und die Welt damit zu unterwerfen. Man mochte wahrscheinlich sogar Reiche darauf gründen, irdisch-allzu irdische Reiche, sehr derb und fortschrittsfroh und eigentlich gar nicht heimwehkrank,  in welchen das Lied zur elektrischen Grammophonmusik verdarb. Aber sein bester Sohn mochte doch derjenige sein, der in seiner Überwindung sein Leben verzehrte und starb, auf den Lippen das neue Wort der Liebe, das er noch nicht zu sprechen wußte. Es war so wert, dafür zu sterben, das Zauberlied! Aber wer dafür starb, der starb schon eigentlich nicht mehr dafür und war ein Held nur, weil er im Grunde schon für das Neue starb, das neue Wort der Liebe und der Zukunft in seinem Herzen
Das also waren Hans Castorps Vorzugsplatten.

Thomas Mann, Der Zauberberg, Fischer Klassik PLUS, E-Buch, 
7. Kapitel „Fülle des Wohllauts“, S. 368
Empfehlenswert auch im Audio CD Album Der Zauberberg von Deutsche Grammophon 
am Beginn von CD 14, gelesen von Gert Westphal. 

 


Der Lindenbaum

Am Brunnen vor dem Tore
Da steht ein Lindenbaum
Ich träumt in seinem Schatten
So manchen süßen Traum
Ich schnitt in seine Rinde
so manches liebes Wort
Es zog in Freud und Leide
Zu ihm mich immer fort


Ich mußt auch heute wandern
Vorbei in tiefer Nacht
Da hab ich noch im Dunkel
Die Augen zugemacht
Und seine Zweige rauschten
Als riefen sie mir zu:
„Komm her zu mir, Geselle
Hier findst du deine Ruh


Die kalten Winde bliesen
Mir grad ins Angesicht
Der Hut flog mir vom Kopfe
Ich wendete mich nicht
Nun bin ich manche Stunde
Entfernt von diesem Ort
Und immer hör ich´s rauschen:
„Du fändest Ruhe dort!“


Text: Wilhelm Müller 1822 (1794-1827)
Musik: Franz Schubert 1827 (1797-1828), 5. Lied im Liederzyklus Die Winterreise