Thomas Mann, Der Zauberberg, „Fülle des Wohllauts“,
Zum Lied ‚Der Lindenbaum‘ aus Franz Schubert/Wilhelm Müller ‚Die Winterreise‘
Zum Lied ‚Der Lindenbaum‘ aus Franz Schubert/Wilhelm Müller ‚Die Winterreise‘
Für jetzt kommen wir auf ein fünftes und letztes Stück aus der Gruppe der
engeren Favoriten, - welches nun freilich gar nichts Französisches mehr war,
sondern etwas sogar besonders und exemplarisch Deutsches, auch nichts
Opernhaftes, sondern ein Lied, eines jener Lieder, - Volksgut und Meisterwerk
zugleich und eben durch dieses Zugleich seinen besonderen
geistig-weltbildlichen Stempel empfangend … Wozu die Umschweife? Es war
Schuberts „Lindenbaum“, es war nichts anderes, als dies allvertraute „Am
Brunnen vor dem Tore“.
[…]
Wir wollen es so stellen: Ein geistiger, das heißt ein bedeutender
Gegenstand ist eben dadurch „bedeutend“, daß er über sich hinausweist, daß er
Ausdruck und Exponent eines Geistig-Allgemeinen ist, einer ganzen Gefühls- und
Gesinnungswelt, welche in ihm ihr mehr oder weniger vollkommenes Sinnbild
gefunden hat, - wonach sich denn der Grad seiner Bedeutung bemißt. Ferner ist die Liebe zu einem solchen
Gegenstand ebenfalls und selbst „bedeutend“. Sie sagt etwas aus über den, der
sie hegt, sie kennzeichnet sein Verhältnis zu jenem Allgemeinen, jener Welt,
die der Gegenstand vertritt, und die in ihm, bewußt oder unbewußt, mitgeliebt
wird. […]
Ei ja, ja, ja, das war recht schön, so mußte wohl jeder Redliche sprechen.
Und dennoch stand hinter diesem holden Produkte der Tod. Es unterhielt
Beziehungen zu ihm, die man lieben mochte, aber nicht ohne sich von einer
bestimmten Unerlaubtheit solcher Liebe ahnungsvoll-regierungsweise Rechenschaft
zu geben. Es mochte seinem eigenen
ursprünglichen Wesen nach nicht Sympathie mit dem Tode, sondern etwas sehr Volkstümlich-Lebensvolles
sein, aber die geistige Sympathie damit war Sympathie mit dem Tode, - lautere
Frömmigkeit, das Sinnige selbst an ihrem Anfang, das sollte auch nicht aufs
Leiseste bestritten werden; aber in ihrer Folge lagen Ergebnisse der
Finsternis.
Was redete er sich da ein! – Er hätte es sich von euch nicht ausreden lassen. Ergebnisse der
Finsternis. Finstere Ergebnisse. Folterknechtssinn
und Menschenfeindlichkeit in spanischem Schwarz mit der Tellerkrause und Lust
statt Liebe – als Ergebnis treublickender Frömmigkeit.
Wahrhaftig, der Literat Settembrini war nicht eben der Mann seines
unbedingten Vertrauens, aber er erinnerte sich einiger Belehrung, die der klare
Mentor ihm einst, vor Zeiten, am Anfang seiner hermetischen Laufbahn, über „Rückneigung“, die geistige
„Rückneigung“ in gewisse Welten hatte zuteil werden lassen, und er fand es
ratsam, diese Unterweisung mit Vorsicht auf seinen Gegenstand zu beziehen. Herr
Settembrini hatte das Phänomen jener Rückneigung als „Krankheit“ bezeichnet, -
das Weltbild selbst, die Geistesepoche, der die Rückneigung galt, mochte seinem
pädagogischen Sinn wohl als „krankhaft“ erscheinen. Wie denn nun aber! Hans
Castorps holdes Heimwehlied, die Gemütssphäre, der es angehörte, und die
Liebesneigung zu dieser Sphäre sollten – „krank“ sein?
Mitnichten! Sie waren das Gemütlich-Gesundeste auf der Welt. Allein das war
eine Frucht, die frisch und prangend gesund diesen Augenblick oder eben noch,
außerordentlich zu Zersetzung und Fäulnis neigte, und, reinste Labung des
Gemütes, wenn sie im rechten Augenblicke
genossen wurde, vom nächsten unrechten Augenblicke an Fäulnis und Verderben in
der genießenden Menschheit verbreitete. Es war eine Lebensfrucht, vom Tode
gezeugt und todesträchtig. Es war ein Wunder der Seele, - das höchste
vielleicht vor dem Angesicht gewissenloser Schönheit und gesegnet von ihr,
jedoch mit Mißtrauen betrachtet aus triftigen Gründen vom Auge verantwortlich
regierender Lebensfreundschaft, der Liebe zum Organischen, und Gegenstand der
Selbstüberwindung nach letztgültigem Gewissensspruch.
Ja, Selbstüberwindung, das mochte wohl das Wesen der Überwindung dieser
Liebe sein – dieses Seelenzaubers mit finsteren Konsequenzen! Hans Castorps
Gedanken oder ahndevolle Halbgedanken gingen hoch, während er in Nacht und
Einsamkeit vor seinem gestutzten Musiksarge saß, - sie gingen höher, als sein
Verstand reichte, es waren alchimistisch gesteigerte Gedanken. O, er war
mächtig, der Seelenzauber! Wir alle waren seine Söhne, und Mächtiges konnten
wir ausrichten auf Erden, indem wir ihm dienten.
Man brauchte nicht mehr Genie, nur viel mehr Talent, als der Autor des
Lindenbaumliedes, um als Seelenzauberkünstler dem Liede Riesenmaße zu geben und
die Welt damit zu unterwerfen. Man
mochte wahrscheinlich sogar Reiche darauf gründen, irdisch-allzu irdische
Reiche, sehr derb und fortschrittsfroh und eigentlich gar nicht heimwehkrank, in welchen das Lied zur elektrischen
Grammophonmusik verdarb. Aber sein bester Sohn mochte doch derjenige sein, der
in seiner Überwindung sein Leben verzehrte und starb, auf den Lippen das neue Wort der Liebe, das er noch nicht
zu sprechen wußte. Es war so wert, dafür zu sterben, das Zauberlied! Aber wer
dafür starb, der starb schon eigentlich nicht mehr dafür und war ein Held nur,
weil er im Grunde schon für das Neue starb, das neue Wort der Liebe und der
Zukunft in seinem Herzen – –
Das also waren Hans Castorps Vorzugsplatten.
Das also waren Hans Castorps Vorzugsplatten.
Thomas Mann, Der Zauberberg,
Fischer Klassik PLUS, E-Buch,
7. Kapitel „Fülle des Wohllauts“, S. 368
Empfehlenswert auch im Audio CD Album Der
Zauberberg von Deutsche Grammophon
am Beginn von CD 14, gelesen von Gert
Westphal.
Der Lindenbaum
Am Brunnen vor dem Tore
Da steht ein Lindenbaum
Ich träumt in seinem Schatten
So manchen süßen Traum
Ich schnitt in seine Rinde
so manches liebes Wort
Es zog in Freud und Leide
Zu ihm mich immer fort
Ich mußt auch heute wandern
Vorbei in tiefer Nacht
Da hab ich noch im Dunkel
Die Augen zugemacht
Und seine Zweige rauschten
Als riefen sie mir zu:
„Komm her zu mir, Geselle
Hier findst du deine Ruh
Die kalten Winde bliesen
Mir grad ins Angesicht
Der Hut flog mir vom Kopfe
Ich wendete mich nicht
Nun bin ich manche Stunde
Entfernt von diesem Ort
Und immer hör ich´s rauschen:
„Du fändest Ruhe dort!“
Text: Wilhelm Müller 1822 (1794-1827)
Musik: Franz Schubert 1827 (1797-1828), 5. Lied im Liederzyklus Die Winterreise