vom 22. Juni 2021.
Am Donnerstag, den 23.6. fuhr ich früh morgens zwischen halb 7 und 7 Uhr Richtung Kirchheim zum Ludwig-Uhland-Gymnasium. Ich wählte den Fahrradweg an der Hauptstraße entlang, weil ich fürchtete, dass der Feldweg auf der anderen Seite der Bahnstrecke aufgrund der starken Regenfälle am vorigen Abend aufgeweicht worden sein oder teilweise unter Wasser stehen könnte. Als ich so in Gedanken versunken dahinfuhr, wurde ich durch die weiß bedeckten Stellen vor mir auf dem Weg aufgeschreckt. Dann hatte es also hier gehagelt. Der Schnee lag jetzt, am Tag danach, an dieser Stelle noch gut 10 cm hoch. So etwas hatte ich bis dahin noch nie gesehen. Es amüsierte mich ein bisschen, ein amüsiertes Staunen, aber nur einen Moment lang, denn als ich weiterfuhr wurde die Schicht der auf dem Radweg liegenden, von den Bäumen abgerissen Zweige und Blätter unübersehbahr, ebenso die Schäden an den Bäumen, die ungewohnt viel Licht hindurchließen und bei genauerem Hinsehen bis zur Hälfte ihres Laubs verloren hatten.
Dieses Bild vom Vorabend fand ich am Nachmittag des 23.6. in der Online-Ausgabe der Stuttgarter Nachrichten.
Als ich zur Bahnunterführung am Ortseingang von Kirchheim-Ötlingen kam, wurde mir klar, dass der Hochwasserschutz, der seit dem letzten Ereignis vor 3 Jahren beträchtlich verbessert worden war, nicht ausgereicht hatte.
Bild vom Vorabend aus den Stuttgarter Nachrichten vom 23.6.
Trockene Reste von Schlamm waren auf der Stuttgarter Straße und dem Gehweg liegengeblieben und ein Blick in die Senke, wo der Schlamm mehrere Zentimeter hoch lag, warnte mich davor, den gewohnten Weg auf die andere Seite der Bahnstrecke einzuschlagen. Auf meiner Fahrt durch die Wohngebiete von Ötlingen wurde mir klar, dass dieses Gebiet stark vom Hagel betroffen gewesen sein musste. Die Decke aus Zweigen und Blättern auf den Wegen, die verwüsteten Gärten, die halbkahlen Bäume.
Wie viel Laub heruntergerissen worden war, hatte ich vor Augen, als ich aus dem NWT-Raum der Schule auf den Gingko-Baum schaute.
Im Lehrerzimmer hörte ich von verschiedenen Seiten Erzählungen von den Schäden und Beobachtungen an den jeweiligen Wohnorten der Kolleginnen und Kollegen, auch, dass es die Gegend bei Notzingen und Wellingen mit am schlimmsten getroffen hatte, also die Felder und Wälder, die an meiner Lieblingsradstrecke liegen.
Dort war ich nun gestern, und der Anblick der kahlen Felder und Bäume hat mich tief erschüttert. Die Wiesen sehen aus wie abgemäht, aber nicht fachgerecht, mit noch halbhohen Halmen.
Es ist, als ob die Zeit entweder in den frühen Frühling zurück oder in den späteren Herbst vorgespult worden wäre, wie nach der Ernte, als ob die Getreidekörner von den Halmen abgestreift worden wären, so dass nur noch die kahlen Stängel stehen.
Von den Maispflanzen sind nur noch 10 cm lange Stumpen geblieben.
Überall haben die Bäume viel von ihrem Laubwerk verloren, selbst an einem wolkigen Tag wie gestern sind die Wälder für die Jahreszeit ungewöhnlich licht. Am Wegrand liegen die von den Wegen weggeräumten, umgestürzten Bäume.
Ich stand eine Weile an dieser Stelle in Wellingen und schaute erschüttert in die Landschaft. Da wurde mir ein Geräusch bewusst, das ich schon eine Weile gehört hatte, ein plonk, plonk, wie wenn jemand Äpfel oder Kartoffeln in einen Eimer hinein aufsammelt, ein Geräusch, das ich mit der Erntezeit im Spätsommer verbinde. Ich schaute mich um und sah einen Mann gebückt unter seinen Obstbäumen im Garten. Er sammelte die grünen, viel zu früh gefallenen, harten, Früchte auf. Plonk, plonk, plonk. Ich stellte mir vor, dass dabei Tränen über sein Gesicht liefen.
Am schlimmsten ist die Zerstörung hinter dem Wendlinger Golfplatz Richtung Notzingen. Auf den Streuobstwiesen dort ragen die kahlen Äste in den Himmel.
In der Woche zuvor waren die hoch stehenden Wiesen noch mit bunten Blüten durchsetzt und zwischen dem Getriede blühten Mohn und Kornblumen. Das Landschaftsbild hat sich von einem Tag auf den nächsten radikal verändert. Heute noch Frühsommer, jetzt Herbst nach dem ersten starken Frost.
Where have all the flowers gone? (Lied von Pete Seeger)
Blumen in den Feldern hinter dem Wendlinger Golfplatz. Die Fotos stammen vom 19. oder 20.6.21.
Dieses Jahr hatte ich bisher wenig Lust, auf meiner Lieblingsradstrecke zu fotografieren. Ich dachte immer, ich habe doch schöne Aufnahmen von derselben Landschaft aus dem letzten Jahr, als ich die Strecke während des ersten Corona-Lockdowns entdeckte. Wie hochmütig! Nie hätte ich gedacht, dass diese Schönheit, dieser überströmende Reichtum an Blüten und Früchten, die dichten, grünen Kaskaden des kühlen Laubwerks, die Überfülle an Grün, so plötzlich einfach nicht mehr da sein könnte.
Bei Notzingen, Juni 2020
Richtung Wellinger Trauf, Juni 2020Richtung Wellinger Trauf, 26.6.2021
Laubwälder sind mit ihrem dichten Blätterdach auch während Hitzeperioden im Sommer noch ein kühler Ort.
"[...] Um sich gegen die Hitze zu wehren, transportiert der Baum Wasser zu den Blättern. Dort verdunstet es, und diese Verdunstung benötigt Energie. Das kühlt nicht nur den Baum, sondern auch die Umgebung. Ein Baum schwitzt wie ein Mensch, nur in größerem Maßstab: Mehrere Hundert Liter Wasser kann er täglich in Form von Wasserdampf an die Umwelt abgeben. Ein Aufsatz in der Fachzeitschrift Global Environmental Change aus dem Jahr 2017 beziffert die Kühlleistung auf 70 Kilowattstunden pro 100 Liter Wasser. Anders gesagt: Ein einziger Baum kann so viel kühlen wie zehn Haushalts-Klimaanlagen.
Stellt man sich nun vor, dass auf einer großen Wiese zehn Klimaanlagen vor sich hin pusten, dann wäre ein Effekt wohl allenfalls spürbar, wenn man direkt davorsäße. Ein ganzes Wäldchen hingegen kann durchaus das Mikroklima verändern. In der konkreten Situation hängt das von der Luftzirkulation ab, aber in baumbestandenen Parks kann die Temperatur um fünf Grad niedriger liegen als in der Betonwüste drum herum.[...]
"Wirken Laubbäume im Sommer wie eine Klimaanlage?", in "Stimmt´s?", Eine Kolumne von Christoph Drösser, 27.März, 2019.
Wie wird das dann in diesem Sommer sein? Weniger Blätter bedeutet neben einer geringeren Kühlwirkung auch weniger Schatten und damit weniger Schutz des Waldes vor Sonneneinstrahlung und Trockenheit. Gleichzeitig wird der Umsatz durch Photosynthese geringer sein, der Wald weniger Kohlenstoffdioxid aufnehmen können, was wieder in der Tendenz zu einer stärkeren Erwärmung beiträgt.
Ein Nachbar gab den Laubbäumen die Schuld an dem Hochwasser. Sie seien ja ganz schön, aber die Blätter hätten (wie immer) die Abflüsse verstopft.
Wie kam es aber, dass um diese Jahreszeit so viele Blätter auf dem Boden lagen und dann vom Regenwasser in die Gräben geschwemmt wurden? Sie waren zuvor durch heftige Windböen und Hagel von den Bäumen gerissen worden.
Als Clara und ich 2011 im mittleren Westen und an der Ostküste der USA unterwegs waren, erlebten wir etwas Vergleichbares mit eigenen Augen. Wir fuhren auf einer Landstraße Richtung Washington D.C., eine hügelige Strecke durch Laubwald, als Glied einer lockeren Kette von Autos, die, so nahmen wir an, ihre Insassen nach dem Wochenende wieder in die Stadt zurückbrachten. Regen setzte ein, der schnell stärker wurde und über die Windschutzscheibe und an den Seiten des Autos hinunterströmte. Wir waren froh, dass wir im Trockenen saßen. Es ging gerade bergab, der tiefste Punkt des Tals war gerade in Sichtweite gekommen als auf einmal die Fahrer vor mir an die Seite fuhren und anhielten. Wir wunderten uns ein bisschen, aber ich zögerte nicht, es ihnen nachzutun. Mag auch für einen Augenblick in mir der Gedanke aufgeblitzt sein, ich könnte ja zügig an ihnen vorbei durch die Senke ziehen, so hatte ich keine Sekunde lang den Drang zur Umsetzung verspürt. Mir war klar, dass das Verhalten der anderen Fahrer etwas bedeutete. Was es war, wurde schnell deutlich. Die Senke füllte sich mit rasender Geschwindigkeit mit Wasser. Das Wasser stieg und stieg nicht ganz bis zum untersten Auto. Der Regen ließ nach, es hörte auf zu regnen. Dann fiel der Wasserspiegel wieder. Als nur noch eine Pfütze vorhanden war fuhr das unterste Auto los. Wir anderen folgten. Das Ganze hatte vielleicht eine Stunde gedauert. Bald kamen wir ohne weitere Zwischenfälle in Washington an.
Der unerbittlichen Gewalt des Wassers, der wir Menschen nichts entgegensetzen können und die ich bisher so nicht aus der eigenen Erfahrung kannte, waren wir auf unserer Reise auch noch in anderen Zusammenhängen begegnet. Ich badete im Eerie-See, der einen Wellengang hatte wie ein Meer und wurde von einer Badeaufsicht zurückgepfiffen, für die ich zu weit hinausgeschwommen war. Ich hatte zwar den Eindruck, Herrin der Lage zu sein, aber wer weiß, ob ich das noch lange gewesen wäre? Am Lake Michigan, am langen Strand von Chicago, wurde ich beim Versuch ins Wasser zu gehen von der Brandung unsanft erfasst und einfach umgeworfen. Das war eine deutliche Warnung. Wir erfuhren, dass am Tag zuvor eine Frau ertrunken war, die ihre Mittagspause zum Schwimmen genutzt hatte und eine geübte, trainierte Schwimmerin war. Am Atlantikstrand bei Atlantic City (N.J.) hatten die Wellen einige wenige Tage bevor der Hurrikan Irene den Ort erreichte eine solche Höhe und Gewalt angenommen, dass Schwimmen gar nicht zur Diskussion stand.
Die Macht der Naturgewalten so wie wir sie auf unserer Reise erlebten und denen viele Amerikaner ja in viel größerem Maße und das ganze Jahr über ihr Leben lang ausgesetzt sind - der Hitze und Trockenheit, den Stürmen und eisiger Kälte - schien mir auf einmal eine plausible Erklärung dafür zu sein, dass im Verhältnis so viele von ihnen gläubige Christen sind. Was bleibt, als sich dem Schutz Gottes anzuvertrauen?
Sonntag, 27.06.2021
Welche Strecke soll ich fahren? Nicht so bald wieder zum Golfplatz und weiter nach Wellingen durch das verwüstete Land. Ein bisschen lustlos schlage ich den Weg in Richtung Unterensingen ein, überquere die Neckarbrücke für Fußgänger und Radfahrer, beginne hinter dem Ort den Aufstieg zum Wald. Wie herrlich grün und frisch ist hier die Landschaft! Das Getreide wiegt sich mit vollen Ähren sanft im Wind. An den Obstbäumen hängen die jungen Äpfel und Birnen und eine junge Frau lehnt eine Aluleiter an einen Kirschbaum. Ich lächle sie an und schaue am Baum hoch. Ein paar Kirschen sind schon rot-schwarz, die meisten noch rot und orange. Vom Lindenhof aus schaue ich über die Felder zum Horizont.
Es ist wie ein Wunder. Auf dieser Seite des Neckars sind keine Schäden
zu sehen. Hier ist die Welt noch in Ordnung.
Ihre Schönheit und Fülle, ihr Reichtum und ihre Fruchtbarkeit machen mich glücklich, und ich kann keinen Augenblick vergessen, wie verletzlich sie ist. Schaut man vom Lindenhof aus Richtung Limburg und Hohenstaufen, so kann man hinter Wendlingen das verwüstete Land erahnen.