Dienstag, 20. Dezember 2016

'Der verlorene Sohn' (Kurzgeschichte)







Der verlorene Sohn

von

Gudrun Rogge-Wiest



2012-13











Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind

rein zufällig und nicht beabsichtigt.




Kapitel I bis V wurden durch 'My Son the Fanatic'

von Hanif Kureishi inspiriert
I

Leicht außer Atem wie immer, wenn sie die drei Stockwerke hinaufsteigt, stellt Regina beide Einkaufstaschen vor der Türschwelle ab, kramt in der Handtasche nach dem Schlüsselbund und öffnet die Wohnungstür.
Hallo, mein Schatz, bin zu Hause!” schmettert sie fröhlich in die geräumige, helle Altbauwohnung hinein. Das ungnädige Brummen, das für sie gerade hörbar aus dem ersten Zimmer links an ihr Ohr dringt, erwidert sie mit einem zärtlichen Lächeln.
Es gibt gleich Essen”, ruft sie fröhlich, während sie in der Küche die Einkaufstaschen auspackt. “Ich hab zwei Döner mitgebracht, mit viel Zwiebeln und scharfer Sauce, so wie du sie am liebsten magst.”
Sie freut sich auf das gemeinsame Abendessen. In letzter Zeit ist er zwar noch schweigsamer geworden, aber so sind Jungs eben in diesem Alter. Während sie den Tisch deckt, hört sie wie seine Tür aufgeht und dann das Klirren des Schlüsselbunds, als er ihn vom Haken nimmt.
Ich will nichts essen, ich treff mich noch mit Freunden”, ruft er ohne sie in der Küche zu begrüßen und zieht schon die Wohnungstür hinter sich zu.
Wann …?” will sie noch fragen, aber er kann sie schon nicht mehr hören.
Ihre Vorfreude schlägt in tiefe Traurigkeit um. Seit sie sich selbstständig machte, hat sie oft zu wenig Zeit für ihn gehabt. Die Psychotherapiepraxis, die sie übernahm, fand von Anfang an großen Zuspruch und sie konnte den Kreis ihrer Patientinnen und Patienten schnell erweitern, so dass sie bald ganztägig in der Praxis beschäftigt war. Anfangs versuchte sie wenigstens zwei Nachmittage in der Woche zu Hause zu sein, aber auf längere Zeit gesehen konnte sie nicht den Mut aufbringen neue Patienten abzuweisen. So ist sie immer erst abends nach Hause gekommen.
Inzwischen ist Felix 16 und geht in die 10. Klasse des Marie-Luise-Gymnasiums. Er gehört weder zu den besten noch zu den beliebten Schülern, und sie glaubt zu spüren, dass er nicht mehr offen über die Schule und sein Verhältnis zu den Mitschülern spricht. Schade, dass er keinen wirklich guten Freund hat und dass er kein wirkliches Interesse für irgendein Fach entwickelt hat, in dem er durch gute Leistungen Selbstbewusstsein und Anerkennung gewinnen könnte.
In der letzten Zeit ist er oft nach dem Abendessen noch nach draußen gegangen um sich mit 'Freunden' zu treffen.



II

Hungrig wie sie vorher war, kann sie jetzt doch nichts essen, und es zieht sie in sein Zimmer.
Die Vorhänge sind nicht zugezogen, so dass die Straßenlaterne vor dem Haus den Raum in ein orangefarbenes Licht taucht. Sie bleibt vor dem Schreibtisch stehen und schaut auf die Straße hinaus. Durch den dichten orange leuchtenden Nebel kann sie kaum bis zur anderen Straßenseite sehen. Hin und wieder hastet ein Fußgänger den Gehweg entlang, die Schultern fröstelnd hoch gezogen, den Blick voraus gerichtet, in Gedanken schon zu Hause.
Sie setzt sich auf den Drehstuhl vor dem Schreibtisch und lässt ihre Augen nachdenklich durch den Raum schweifen. Das E-Piano ist von kreuz und quer gestapeltem Papier bedeckt. Seit September nahm er keine Klavierstunden mehr. Sie hat immer wieder versucht ihn zu motivieren, aber er hatte schon lange keine Lust mehr zu üben. Ihre Augen wandern zum Bücherregal. Ob er noch liest? Das ist ihr immer wichtig gewesen, und sie schenkte ihm von Zeit zu Zeit Bücher oder gab ihm Tipps, was er sich in der Bibliothek ausleihen könnte. Als sie beide nach und nach alle sieben Harry-Potter-Bände lasen, teilten sie beim Abendessen ihre
Eindrücke miteinander. Das war eine glückliche Zeit.
Die Türen des Kleiderschranks an der gegenüberliegenden Wand stehen halb offen. Den schwarzen Kapuzenpulli, den er so gerne trägt, hat er über die linke Tür geworfen. Zwischen den Türen quellen T-Shirts und Hosen hervor, die er nicht aufgehängt hat. Das Poster rechts neben dem Schrank ist neu. Es zeigt einen Krieger, der mit heruntergeklapptem Visier und gezücktem Schwert auf sie zuspringt.
Mit einem tiefen Seufzer steht sie auf und schaut noch einmal zum Fenster hinaus. Während sie sich zum Gehen umwendet, fällt ihr Blick auf den Schreibtisch. Zwischen dem über die Tischfläche verstreuten Papier kann sie einige der Comicfiguren sehen, die er auf die Schreibunterlage gezeichnet hat. Viele davon kennt sie nicht, aber da sind auch Mickey Mouse und Donald Duck in verschiedenen lustigen Posen. Sie scheinen vor Übermut aus dem Papier herauszupurzeln. Regina bewundert Felix Talent sie so lebendig wirken zu lassen.
Die Figuren mit den Schildkrötengesichtern und einer Binde über den Augen, die Löcher für die Augen frei lässt, schauen auch ganz lustig drein. Aber da ist auch wieder dieser Krieger, den sie schon auf dem Poster gesehen hat. Das gebogene Schwert in seiner linken Hand zur Abwehr vor die Brust gehalten, in der rechten ein kurzes Schwert wie zum Stoß bereit stürzt er auf sie zu. Was das wohl bedeuten soll?
Tief aufseufzend steht sie auf und schaut noch einmal aus dem Fenster. Während sie sich zum Gehen umwendet, bemerkt sie ein Foto, das an der Ablage in der linken hinteren Ecke des Schreibtischs lehnt. Einige dunkle Gestalten sind darauf abgebildet. Nachdem sie die Schreibtischlampe angeknipst hat, sieht sie, dass es junge Männer sind, die schwarze Kapuzenpullis tragen und wie eine Fußballmannschaft zum Fototermin aufgestellt sind. Durch den Schatten, den die Kapuzen werfen, sind ihre Gesichter kaum zu erkennen. Ob das Felix Freunde sind? Hinter der Gruppe ist ein Transparent aufgespannt mit der Aufschrift 'Freie Jugend' in gotischer Schrift, schwarz auf weißem Hintergrund und eingerahmt von gleichschenkligen Kreuzen am rechten und am linken Rand. Sie könnte Friedhelm anrufen. Als junger Journalist hat er einmal über Jugendkulturen geschrieben. Sie wollte sowieso schon lange mit ihm über Felix sprechen.



III

Regina hängt ihren Mantel an der Garderobe in der Gaststube des 'Goldenen Drachen' auf und dreht sich langsam zu dem Tisch am Fenster hin um, wo Felix und Friedhelm sich gerade mit Handschlag begrüßen. Sie bemerkt dass Felix mit einem verschlossenen fast düsteren Gesichtsausdruck an seinem Vater vorbei schaut. Es hat sie große Mühe gekostet ihn zu dem gemeinsamen Abendessen zu überreden. Jetzt hofft sie, dass er mit der Zeit auftauen wird, und dass sie miteinander auskommen werden.
Jetzt erzähl mal”, hört sie Friedhelm zu Felix sagen.
Was möchtest du denn hören?” fragt Felix genervt zurück.
Na, wie es dir so geht. In der Schule. Was du in deiner Freizeit machst”, sagt Friedhelm in bewusst leichtem freundlichen Tonfall.
Das willst du doch nicht wirklich wissen”, erwidert Felix misstrauisch.
Gib mir doch eine Chance, Felix”, bittet Friedhelm. “Deiner Mutter und mir kannst du vertrauen. Wir wissen, dass auch einmal etwas schief gehen kann. Auch wir haben Fehler gemacht.”
Gar nichts wisst ihr”, knurrt Felix feindselig.
Lasst uns doch erstmal was zu essen aussuchen”, unterbricht Regina nervös.
Warum essen wir überhaupt hier?” fragt Felix unmutig. “Das Essen hier schmeckt mir nicht. Ihr immer mit eurem Multikulti-Tick.”
Wenn wir höflich fragen, können wir bestimmt auch Pommes und ein Schnitzel bekommen”, sagt Regina versöhnlich.
Darum geht es doch gar nicht”, erwidert Felix müde. “Ich habe dieses Multikulti-Gesülze einfach satt. Überhaupt geht mir euer Kulturfimmel auf die Nerven … 'hast du heute Klavier geübt? Was liest du denn gerade? Hast du nicht Lust mal zu einer Schnupperstunde ins Junge Theater zu gehen?' … Ihr habt doch überhaupt keine Ahnung!”
Was zieht dich denn zur 'Freien Jugend'?“ fragt Friedhelm. “Mum hat das Foto auf deinem Schreibtisch gesehen.”
Dort habe ich Freunde gefunden”, sagt Felix trotzig. “Sie hören mir zu und sie verstehen, warum ich mich manchmal scheiße fühle in der Schule. Sie haben gesagt, dass sie jeden zusammenschlagen, der über mich lacht. Am nächsten Wochenende geh ich mit ins Trainingslager.“
Das kommt überhaupt nicht in Frage!” sagt Friedhelm, der blass geworden ist, in entschiedenem Tonfall.
Dann eben nicht!” schreit Felix ihn an. “Ich bleibe jedenfalls bei der 'Freien Jugend', ob du es nun gut findest oder nicht!” Er stößt den Stuhl zurück, dass er krachend umfällt und stürmt zur Gaststube hinaus.



IV

Friedhelm hat gerade seinen Artikel zum 75. Jahrestag des Reichstagsbrands zum letzten Mal Korrektur gelesen. Nun macht er müde aber zufrieden die Tür zum Redaktionsbüro hinter sich zu, hüllt sich in seinen warmen Wintermantel ein und steigt die drei Stockwerke zur Straße hinunter. Als er die Haustür öffnet schlägt ihm raureifkalte Luft entgegen, und er blinzelt in das grelle Sonnenlicht. Trotz der Kälte sind erstaunlich viele Menschen unterwegs. Sie nutzen den Samstag Nachmittag zum Einkaufen und Schaufenster bummeln. Er liebt es in die Menschenmenge einzutauchen und sich von ihrer Lebensfreude anstecken zu lassen. Nachdem er sich so intensiv mit den Gräueltaten der Nazis beschäftigt hat, empfindet er fast so etwas wie Stolz auf das heutige Deutschland, mit den im Grundgesetz festgeschriebenen Bürgerrechten und Menschenrechten als sicherem Fundament einer demokratischen Gesellschaftsordnung. Statistisch gesehen sind Intoleranz und Rassenhass nur noch unschöne Randerscheinungen.
Kurz entschlossen schlägt er den Weg zum 'Sahnehäubchen', seinem Lieblingscafé, ein, um noch eine Weile der Einsamkeit seiner Wohnung und den quälenden Sorgen um Felix auszuweichen. An seinem Fensterplatz im ersten Stock genießt er es bei einer Tasse schwarzen Kaffees und einem Stück Käsesahne das Leben auf der Straße zu beobachten.
Er muss tief in Gedanken gewesen sein, denn auf einmal wird ihm bewusst, dass sich das Bild vor seinen Augen geändert hat. Keine 30 Meter von ihm entfernt hat sich an der nächsten Straßenecke ein Menschenauflauf gebildet. Polizisten mit Schutzhelmen und Schutzschilden sperren den Zugang zur Oranienburgerstraße ab. Schwarz gekleidete junge Leute versuchen an verschiedenen Stellen sich zwischen den Polizisten durchzudrängen, werden aber abgewehrt. Er kann ihre aufgebrachten Stimmen hören.
Inzwischen ist ihm der Grund für die Absperrung klar geworden. Auf der Friedrichstraße bewegt sich eine Demo in seine Richtung. Die Demonstranten tragen schwarze Kapuzenpullis, die Kapuzen hängen ihnen über die Stirn, so dass die Gesichter im Schatten liegen. Nun kann er die Slogans auf den Transparenten lesen: 'Knechtschaft überwinden' und 'Multikultur tötet' und 'Freie Jugend gegen Mulitkulti'. Er senkt den Blick auf seine Tasse, in der sich noch eine Bodendecke Kaffee befindet, tiefschwarz, so dass der Tassenboden nicht durchscheint.



V

Er sitzt auf dem Sofa und starrt in das halb leere Glas Whisky, das er zwischen seinen Händen hält. Er ist verzweifelt. Was soll er tun? Er muss mit Felix sprechen, am besten heute Abend noch. Aber was soll er sagen? Er steht auf und geht ruhelos vom Wohnzimmer in sein Arbeitszimmer, von dort in die Küche und wieder ins Wohnzimmer zurück. Er kann keinen klaren Gedanken fassen. Draußen ist es dunkel geworden. Er nimmt seinen Mantel von der Garderobe im Flur und macht sich auf den Weg zu Reginas Wohnung.

Er kann ihr die Überraschung und die tiefe Skepsis ansehen, die sie verspürt, als sie ihn auf der Türschwelle stehen sieht. Wortlos zeigt sie auf Felix Tür und zieht sich dann in die Küche zurück. Sein Herz klopft schnell und laut als er die Tür öffnet.
Felix steht in der Mitte seines Zimmers mit leicht gespreizten Beinen und hoch erhobenem Kopf und schaut Friedhelm herausfordernd an. “Was willst du?” fragt er drohend.
Ich wünsche mir, dass wir Freunde werden”, sagt Friedhelm freundlich.
Ich brauche dich nicht mehr, ich habe Freunde”, erwidert Felix ruhig und kalt. “Und es ist mir egal ob dir das passt oder nicht!”
Er dreht sich um, setzt sich auf den Drehstuhl vor seinen Schreibtisch und schaut aus dem Fenster.
Mit zwei langen Schritten ist Friedhelm bei Felix. Voller Wut packt er seine Schultern, schüttelt ihn und brüllt: “Du Idiot! Du weißt nicht was du tust!”
Dann schlägt er verzweifelt seine Hände vors Gesicht und wendet sich ab. Tiefe Hoffnungslosigkeit erfasst ihn, als er aus der Wohnung hinausstürmt.



VI

Nachdem sie Friedhelm geöffnet hat, geht Regina wieder in die Küche, setzt sich an den Küchentisch und schaut auf ihre Hände, die vor ihr auf dem Tisch liegen, die Finger miteinander verschränkt. Sie bezweifelt, dass Friedhelm es schaffen wird Felix umzustimmen. Er glaubt immer, dass man alles möglichst sofort in Ordnung bringen muss, so wie man einen abgesprungenen Knopf annäht. Aber in Beziehungen ist das nicht so einfach.
Da hört sie ihn brüllen, und gleich darauf fällt die Wohnungstür ins Schloss.
Sie kann ihn ja verstehen. Es war sein Versuch Felix der unheimlichen Macht zu entreißen, an die sie ihn verloren. Sie selbst hat den Impuls unterdrückt mit Felix eine Grundsatzdebatte zu führen. Wenn sie versucht ihn zu beeinflussen, reagiert er ja doch nur genervt. Andererseits wird er sich vielleicht immer stärker mit der Gruppe identifizieren, je länger er an ihren Aktivitäten teilnimmt.
Felix ist ihr ein Rätsel. Wie konnte es kommen, dass sich ausgerechnet ihr Kind in einer rechtsradikalen Organisation wohl fühlt? Sie hat auf rechtsradikale Gedanken immer mit Unverständnis und Abscheu reagiert. Menschen nur wegen ihrer Religion oder ihrer Herkunft abzulehnen erscheint ihr unendlich primitiv. Wie kann ein Mensch nur so von Hass erfüllt sein?
Sie würde gerne mit jemandem über ihre Sorgen und Ängste sprechen, aber sie bringt es nicht übers Herz ihre Mutter damit zu belasten, und sie schämt sich vor ihren Freundinnen. Sie hat sich noch nie so einsam gefühlt.

Mit großer Willensanstrengung gelingt es ihr in der folgenden Woche sich in der Praxis auf ihre Arbeit zu konzentrieren, aber so bald sie sich auf den Weg nach Hause macht, kreisen ihre Gedanken unaufhörlich um Felix. Er wich ihr aus, als sie ihn auf die Auseinandersetzung mit seinem Vater ansprach, und sie will nicht weiter in ihn dringen. Sie weiß, dass er sich am Sonntag Nachmittag zum Fußballspielen mit seinen neuen Freunden traf. Am Montag morgen ging er wie immer zur Schule. Als sie am Montag spät nachmittags auf dem Heimweg war, stieß sie auf der Straße vor dem Haus mit ihm zusammen. Er trug eine Sporthose und Sportschuhe, war ganz verschwitzt und außer Atem und keuchte:
Ich war noch eine Runde laufen.“
Es tut ihm sicher gut, wenn er mehr Sport macht“, denkt sie.
Sie hatte sich immer um ihn gesorgt, weil er so auffällig sensibel war. Als Kleinkind war er zwar vorsichtig aber gleichzeitig unbeholfen, so dass er sich oft weh tat. Er weinte viel, auch wenn nur eine Tür zuknallte oder in der Küche ein Teller oder ein Glas zu Boden fiel. Wenn sie sich mit Friedhelm nicht einig war und sie ein Streitgespräch führten, spürte er es sofort, auch wenn sie einander nicht anschrien.
Am liebsten hatte er es, wenn sie sich zu ihm auf den Boden setzte und mit ihm spielte oder ihm vorlas. Er war immer ein Mamakind gewesen. Anderen Menschen gegenüber war er sehr scheu und ängstlich. Wenn sie mit Felix Freundinnen besuchte, saß er die meiste Zeit auf ihrem Schoß und ließ sie nicht alleine aus dem Zimmer gehen. Es war ihr sehr schwer gefallen, sich darauf einzustellen. Eine Zeit lang fremdelte Felix sogar, wenn Friedhelm nach Hause kam, was diesen tief verletzte.
Um Felix mit anderen Kindern zusammenzubringen suchte sie früh den Kontakt mit anderen Müttern. Einmal in der Woche gingen sie in eine Krabbelgruppe, aber Felix bewegte sich kaum von ihr weg. Es war auch sehr schwierig, ihn an einen Kindergarten zu gewöhnen, aber sie wollte unbedingt wieder arbeiten. Vielleicht spürte Felix ja, dass sie eigentlich nicht den ganzen Tag mit ihm zu Hause sein wollte, so dass er sich umso mehr an sie klammerte.
Nur wenn sie mit Felix ihre Eltern in Hamburg besuchte, klammerte er nicht. Während der drei Jahre, in denen sie noch Klinikerfahrung für ihre Anerkennung als Fachärztin sammeln musste, lebten sie und Felix deshalb bei ihren Eltern. Das geräumige Haus und der große Garten waren Felix Paradies. Er konnte stundenlang im Sandkasten sitzen und Kuchen für Oma und Opa backen. Im Sommer stellten sie ein aufblasbares Plantschbecken auf. Wenn Regina von der Klinik nach Hause kam, hörte sie Felix manchmal schon am Gartentor übermütig quietschen und lachen.
Sie wusste, dass sich Friedhelm von diesem glücklichen Familienleben ausgeschlossen fühlte. Sein Verhältnis zu ihren Eltern, insbesondere zu ihrem Vater, war immer etwas distanziert, wenn nicht angespannt.
Ich habe das Gefühl, dein Vater hat eine Diagnose über mich erstellt und die lautet, dass ich deiner nicht ganz würdig bin“, sagte er einmal.
Ihrem Vater wäre es natürlich am liebsten gewesen sie hätte einen Arzt geheiratet. Ein Journalist – das war für ihn kein solider Beruf für einen Mann, der eine Familie ernähren musste.
Nichts gegen dich persönlich. Aber die meisten Journalisten sind doch mehr an Skandalen als an objektiver Berichterstattung interessiert.“ sagte er.
Obwohl er in seiner Praxis und im Krankenhaus mit viel Leid konfrontiert wurde, begegnete er Friedhelms gesellschaftskritischer Einstellung mit Unmut.
Man kann die Welt doch nicht mit Worten verbessern.“ sagte er einmal gereizt. Friedhelm reagierte zwar bewundernswert gelassen, Regina spürte jedoch, wie sehr es ihn wurmte von ihrem Vater so gedemütigt zu werden.
Zugegeben, sie selbst hätte mehr dazu beitragen müssen, dass Friedhelm ein Teil der Familie blieb. Aber sie konnte es nicht akzeptieren, dass er so wenig zu Hause war. Theoretisch verstand sie es zwar, dass er als Journalist viel unterwegs sein und oft abends und am Wochenende arbeiten musste, aber sie wünschte sich trotzdem, dass er mehr Zeit mit ihr und Felix verbringen würde.
Als sie nach der letzten Facharztprüfung wieder in ihre Wohnung in Berlin zurückkehrten, hoffte sie, zwischen Friedhelm und Felix würde ein neues innigeres Verhältnis entstehen. Felix war jedoch auch mit sieben Jahren noch ungern mit Friedhelm allein. Er fragte dann oft, wann Mama wiederkommen würde, was Friedhelm natürlich frustrierte.
Wie auch immer - Friedhelm zog sich mehr und mehr in seine Arbeit zurück. Als Felix acht Jahre alt war, begann er auch Aufträge im Ausland anzunehmen. Jedes Mal wenn er zurückkam, verhielt sich Felix ablehnend. So war die Beziehung zwischen den beiden immer schwierig gewesen.
Im Rückblick ist sich Regina bewusst, dass Friedhelm sich sehr viel Mühe gab. Bei allen Rückschlägen hat er es nie aufgegeben, sich um Felix Vertrauen und um seine Zuneigung zu bemühen. Jetzt ist er bestimmt zutiefst deprimiert über das Misslingen seines Versöhnungsversuchs. Sie beschließt sich mit ihm zu verabreden um mit ihm zusammen zu überlegen, wie sie vorgehen könnten um Felix nicht ganz zu verlieren.


VII

Er sieht sie gleich beim Hereinkommen an einem Tischchen am Fenster sitzen, ihr Gesicht zur Straße hingewandt.
Entschuldige die Verspätung“, sagt er zur Begrüßung. „Ich musste das Feuilleton für die morgige Ausgabe noch zu Ende redigieren.“
Macht nichts“, erwidert sie beruhigend. „Ich bin nicht in Eile. Es tut mir gut hier zu sitzen und nichts zu tun.“
Er bestellt sich eine Tasse Kaffee und lehnt sich dann mit einem resignierten Gesichtsausdruck zurück.
Kein Kuchen?“ fragt sie lächelnd.
Kein Appetit mehr auf Kuchen“, gibt er zurück. „Den Kaffee brauche ich aber zum Überleben. Seit Samstag fühle ich mich wie der letzte Idiot. Bei Felix bin ich jetzt sicher komplett untendurch.“
Dass du die Fassung verloren hast, zeigt doch auch wie sehr du dich um ihn sorgst“, meint Regina tröstend.
Ich hätte ihn aber auf keinen Fall packen und schütteln dürfen“, gesteht Friedhelm gequält. Er lehnt sich nach vorn, stützt die Ellbogen auf den Tisch und lässt den Kopf schwer zwischen die gespreizten Finger beider Hände sinken. „Hast du denn seither mit ihm gesprochen?“
Regina schüttelt den Kopf.
Er spricht nicht viel und schon gar nicht über seine Gefühle. Du hast es ja selbst erlebt. Wenn man ihn direkt auf sein Verhältnis zur 'Freien Jugend' anspricht, blockiert er.“
Was können wir jetzt noch tun?“ fragt Friedhelm verzweifelt.
Ich schlage vor wir erlauben ihm am nächsten Trainingslager teilzunehmen“, sagt Regina.
Damit er noch tiefer in die rechtsradikale Szene hinein gerät?“ fragt Friedhelm sarkastisch.
Die Gefahr besteht natürlich schon“, gibt Regina zu. „Andererseits glaube ich kaum, dass Felix schon alle Seiten der 'Freien Jugend' kennt. Möglicherweise wird er im Trainingslager Dinge sehen und erleben, die auch ihm nicht gefallen und die seine Illusionen zerstören. So weit ich ihn kenne, wird er sich erstmal anpassen und sich bemühen nichts falsch zu machen, so dass wenig Gefahr besteht, dass ihm ein Leid angetan wird.“
Friedhelm schaut nachdenklich aus dem Fenster auf die belebte Gasse. Der Plan erscheint ihm zu gewagt. Am liebsten wäre es ihm wenn Felix sofort und für immer den Kontakt zur 'Freien Jugend' abbrechen würde. Aber Regina hat Recht. Er würde sich nicht durch die Argumentation der Eltern beeinflussen lassen. Ein Trainingslager – von Freitag Nachmittag bis Sonntag gegen Mittag. Kaum 48 Stunden. Natürlich ist es gut möglich, dass Felix sich danach noch stärker mit der Gruppe identifiziert.
Was müsste passieren damit er sich von der rechten Szene distanziert? Und wenn es so weit kommt, wie könnte man ihn davor schützen als Verräter verfolgt und bestraft zu werden? Dann müssten sie auf jeden Fall die Polizei einschalten.
Seufzend wendet sich Friedhelm wieder Regina zu.
Also gut. Er soll an dem Trainingslager teilnehmen. Es scheint unsere einzige Chance zu sein“, sagt er.
Da ist noch eine Kleinigkeit“, zwingt sich Regina zu sagen, aber sie kann Friedhelm dabei nicht ansehen. „Es wird höchstwahrscheinlich nicht bei einem Trainingslager bleiben.“
Friedhelm verzieht gequält das Gesicht. „Wir müssen es wohl darauf ankommen lassen“, sagt er resigniert.
Er fühlt sich schuldig, nicht nur weil er Felix gegenüber ausgerastet ist. Es ist ihm schon lange bewusst, dass er Fehler gemacht hat. Auch wenn er immer wieder den Kontakt mit Felix suchte, hatte er es im Grunde aufgegeben sein Vertrauen zu gewinnen. Dazu kam der berufliche Ehrgeiz. Um bessere Chancen auf eine Stelle in der Redaktion einer renommierten Zeitung zu haben, brauchte er Auslandserfahrung. Für sein Feature über die Freiheitsbewegung in Polen bekam er einen Preis, der ihn in Journalistenkreisen bekannt machte, so dass weitere interessante Aufträge in Osteuropa folgten. Wenn er zwischen seinen Reisen seine Familie besuchte, musste er mit Felix heftiger Ablehnung und Reginas vorwurfsvollem Schweigen klarkommen. Es verletzte ihn, dass sein beruflicher Erfolg in seiner Familie so wenig Anerkennung fand. So verbrachte er mehr und mehr Zeit in der Redaktion, wenn er in Berlin war und ging erst nach Hause, wenn Felix längst schlief.
Wenige Tage nach Felix zehntem Geburtstag forderte Regina ihn auf sich eine neue Wohnung zu suchen.



VIII

Regina räumt mechanisch mit routinierten Handgriffen die Küche auf und macht sich eine Tasse Kaffee. Um Felix noch einmal sehen zu können, bevor er sich auf den Weg ins Trainingslager machte, war sie über Mittag nach Hause gekommen. Sie hatte gekocht – Pfannkuchen mit einer Spinat-Hackfleischfüllung – seit kurzem eines von Felix Lieblingsgerichten. Er aß mit großem Appetit und sie spürte, dass er ihre Mühe schätzte.
Viel Spaß! Und pass auf dich auf!“ sagte sie zum Abschied, wie immer hoffend, dass er nicht spürte wie besorgt sie war.
Nun weiß sie nicht was sie mit dem restlichen Nachmittag und dem Abend anfangen soll. Während sie sich sonst die Zeit so sorgfältig einteilt und ihre 'to do'-Liste gewissenhaft abarbeitet, erscheint ihr jetzt alles sinnlos. Tief aufseufzend zieht sie die Tageszeitung zu sich heran, schiebt sie aber nach kurzer Zeit wieder von sich. Sie kann sich auf nichts konzentrieren.

IX

Regina hat sich im Café Mokkabohne mit Susanne verabredet, weil sie nicht das ganze Wochenende über allein sein will. Susanne ist eine Kollegin, mit der sie gut über ihre Arbeit sprechen kann. Ihre Tochter Lena ist ein Jahr älter als Felix. Nun fühlt sie sich an das runde Tischchen gefesselt und muss Susanne zuhören, die spürbar stolz von Lena erzählt. Bei der diesjährigen Theateraufführung des Marie-Luise-Gymnasiums hatte sie mit großem Erfolg die Hauptrolle in 'Besuch der Alten Dame' gespielt.
Regina muss sich ganz darauf konzentrieren aufmerksam-freundlich zu lächeln und mit kurzen Einwürfen zu signalisieren, dass sie zuhört und wie sehr sie Lena bewundert. Susanne soll nicht merken wie elend sie sich fühlt.
Und wie geht es Felix?“ hört sie Susanne fragen.
Ganz gut“, zwingt sie sich zu sagen. „Er ist zwar nicht so aktiv wie Lena, aber seine Schulleistungen sind ordentlich und er geht seit kurzem regelmäßig joggen. Du weißt ja, dass er auch gerne zeichnet.“
Ja, ich erinnere mich. Schon als er klein war, war er ein richtiger Künstler. Ich habe dich immer ein bisschen darum beneidet. Aber dann hat Lena ihr musikalisches Talent entdeckt. Im Schulorchester spielt sie jetzt in der ersten Geige. Es ist manchmal gar nicht leicht für sie mit den Proben fürs Theater und fürs Orchester und dann auch noch die Schule.“

Susanne arbeitet nur noch drei Tage in der Woche um die Urlaubskasse aufzubessern, wie sie leichthin sagt. Ihr Mann hat eine Stelle im oberen Management eines multinationalen Konzerns. Regina bewundert die lässige Eleganz ihrer Erscheinung und ihres Auftretens. Ihre Kleidung wirkt wie maßgeschneidert - fließende Seidengewänder, die ihre schlanke Taille und ihre langen schlanken Beine umschmiegen. Alles an ihr und um sie herum erscheint ihr perfekt - das Familienleben, die Kinder, der berufliche Erfolg ...
Geht es dir nicht gut?“ dringt auf einmal Susannes Stimme gedämpft zu ihr wie aus einer anderen Welt.
Entschuldige“, sagt Regina. „Ich musste an eine meiner Patientinnen denken. Ich habe gerade angefangen, den Fallbericht zu schreiben und komme irgendwie nicht davon los.“
Sie beginnt von ihrer Patientin zu erzählen.



X

Friedhelm sitzt auf seinem Sofa mit schlaff nach vorn hängenden Schultern und starrt auf die klare bernsteinfarbene Flüssigkeit in seinem Whiskyglas. Er hat sich eingeschenkt aber keinen Schluck davon getrunken. Immer wieder atmet er etwas tiefer ein und glaubt dann das Whiskyaroma wahrzunehmen. Dabei ist er sich sicher, er würde das Glas nicht anrühren. Wenn er nach dem Einschenken immer nur ein wenig abwartet, beginnt er die Demütigungen aus der Zeit seiner Alkoholsucht nachzuerleben. Nichts kann ihn dann dazu bringen einen Schluck zu nehmen.
In der ersten Zeit nachdem Regina ihn aus der Wohnung geworfen hatte, verspürte er geradezu Erleichterung. Er hatte ständig ein schlechtes Gewissen gehabt – weil er immer so spät nach Hause kam, weil er viel unterwegs war und weil ihr Unmut darüber immer unausgesprochen blieb. Im Nachhinein scheint es ihm als hätte es sich jeder von ihnen in seinem Schmollwinkel bequem eingerichtet.
Also war die Trennung für ihn doch eine gute Lösung – ohne großen Streit und ohne zerfleischende Auseinandersetzungen um Geld. Regina legte großen Wert darauf, dass er Felix regelmäßig besuchte oder etwas mit ihm unternahm. Der einzige Haken daran war, dass Felix das Zusammensein mit ihm immer als unangenehm empfand. Mit Papa einen lustigen Film anschauen oder mit Papa Eis essen gehen war Pflichtprogramm, wie die Schule. Es war als ob Felix in seiner Gegenwart nicht er selbst sein konnte, als hätte er nur darauf gewartet, bis die Zeit abgelaufen war. Aber wenn Friedhelm ehrlich war, musste er zugeben, dass er genauso empfunden hatte.
Nach den Nachmittagen mit Felix fühlte sich Friedhelm angespannt und aufgewühlt. Er brauchte zuerst einmal ein Glas Whisky zur Entspannung bevor er irgend etwas anderes machen konnte. Zugegeben, er hatte schon immer gerne Wein getrunken, am liebsten einen fruchtigen leichten Weißwein, wie in ihren glücklichsten Zeiten, wenn er mit Regina abends zusammen saß und sie ihn mit ihren hellen grün-blauen Augen zärtlich anschaute.
Als aber die Spannungen zwischen Regina und ihm größer wurden, brauchte er abends etwas Stärkeres, damit seine Gedanken nicht ständig um seine Probleme kreisten, die ja nicht nur zu Hause auf ihn lauerten. Auch in der Redaktion hatte er immer wieder Stress – mit der Deadline für eine Reportage oder mit dem Redigieren des Feuilletons. Es galt den Ideenreichtum junger aufstrebender Journalisten einzubinden ohne sich von ihnen in eine Ecke drängen zu lassen. Es war als müsste er ständig die Position verteidigen, die er sich im Lauf der Jahre erkämpft hatte. Mit der Zeit genügte ihm ein Whisky am Abend nicht mehr, dann begann er immer früher am Nachmittag mit dem ersten Glas.
Einmal schien es, als könnte er ein neues Leben beginnen, als er Meike, eine junge Journalistin aus Brandenburg kennen lernte, die ähnlich dachte wie er. Meike verließ ihn jedoch plötzlich nach einem Jahr. Nachdem sie sich in einen erfolgreichen Firmengründer aus Potsdam verliebt hatte, den sie während der Recherche für ein Feature kennen gelernt hatte, war Friedhelm für sie nur noch der „Besser-Wessi“.
Bitter enttäuscht und zutiefst verletzt begann er wieder zur Flasche zu greifen – und was dann folgte, daran mochte er nicht mehr denken.
Wie schon so oft lächelte er bei dem Gedanken daran, dass es eigentlich Reginas fragende Blicke waren, die ihm geholfen hatten, seine Sucht zu überwinden, obwohl sie sich in dieser Zeit so gut wie nie sahen. In seinen klareren Momenten sah er sie vor sich wie sie hinter seinen müden glanzlosen Augen und seiner blass-gelblichen Gesichtshaut nach dem jungen dynamischen Journalisten suchte, in den sie sich verliebt hatte und hörte sie fragen, was denn aus ihm geworden sei.

Sie hatten sich 1989 im Freudentaumel des Mauerfalls kennen gelernt. Er hatte vor ein paar Wochen sein Volontariat bei der Badischen Zeitung beendet und war seither auf eigene Kosten in Berlin, um diesen historischen Moment in der deutschen Geschichte mitzuerleben und darüber zu schreiben. Zusammen mit einem Medizinstudenten, der Matze hieß und Hobbyfotograf war, beobachtete er das Leben im Grenzgebiet zwischen Ost- und Westberlin. Sie wollten das Zerbröckeln der alten Welt und die Atmosphäre des Aufbruchs in eine neue Zeit einfangen, in Bildern und in Worten. Sie waren fasziniert von der Idee eines neuen Deutschlands, das weder sozialistisch noch kapitalistisch war, eines Deutschlands, in dem das Wohl der Menschen an erster Stelle stand.
Eines Abends hatten sie sich in einer Kneipe in Berlin Mitte zu einigen von Matzes Kommilitonen an den Tisch gesetzt. Regina fiel ihm auf, weil sie in der ausgelassenen Stimmung einen kühlen Kopf zu behalten schien. Im Unterschied zu den anderen beiden Studentinnen flirtete sie nicht mit ihm. Er spürte aber, dass sie ihn aufmerksam beobachtete.
Ein paar Tage später redeten sie auf Matzes Geburtstagsparty zum ersten Mal miteinander. Sie hatte gerade begonnen sich auf ihr zweites Staatsexamen vorzubereiten.
Gar nicht so einfach, sich auf die Dysfunktionen von Leber und Nieren zu konzentrieren, wenn um dich herum eine neue Welt entsteht“, sagte sie lachend. Dafür nahm er sie in den Arm und küsste sie. Aufgeschreckt durch die schrillen Pfiffe, die um sie herum ertönten, sahen sie einander lächelnd an und küssten sich dann noch einmal lange und zärtlich.
Von da an waren sie viel zusammen in Berlin unterwegs, wann immer Regina Zeit hatte.
In ihrer Gegenwart fühlte er sich im Gleichgewicht, weil ihre eigene innere Ruhe sich auf ihn übertrug. Er spürte, dass sie einen festen Platz in der Welt hatte und ein festes Ziel vor Augen, von dem sie sich nicht abbringen lassen würde. Er dagegen fühlte sich heimatlos und immer auf der Suche.
Im Unterschied zu ihm sah Regina keinen Grund für Kritik am marktwirtschaftlichen System der Bundesrepublik Deutschland. Es war ihm bald klar, dass sie es gar nicht in Frage stellen konnte, weil sie und ihre Familie viel mehr ein Teil dieses Systems waren als er. Regina gehörte zu den Studenten, die selbstverständlich studierten, weil ihre Eltern Akademiker waren, die das von ihr erwarteten und ihr das Studium finanzierten. Ihr Vater war auch Arzt, ihre Mutter Lehrerin und ihre Eltern waren ihr immer Vorbilder und Wegweiser gewesen. Das Wunderbare war, dass sie sich deswegen nicht unter Druck fühlte. Natürlich war sie auch manchmal frustriert, aber sie absolvierte Schritt für Schritt dieser langen Ausbildung ohne sie auch nur einmal in Frage zu stellen, weil der Arztberuf die in ihre Wiege gelegte Bestimmung war.

Friedhelm dagegen war der erste Universitätsstudent in seiner Familie. Seine Eltern waren 1931 geboren und erhielten während des Weltkriegs keine gute Schulbildung. Nach dem Krieg musste sein Vater – er war gerade 14 Jahre alt – in einem Kohlebergwerk arbeiten um sich, seine Mutter und seine Geschwister zu ernähren. Friedhelms Großvater war bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen.
Durch Abendschule und Fortbildungen konnte Friedhelms Vater zwar zum Abteilungsleiter in einer Uhrenfabrik aufsteigen, aber er verstand sich sein Leben lang als Kind der Arbeiterklasse und empfand die Verteilung von Chancen und Gütern in der freien Marktwirtschaft als ungerecht.
Die Reichen werden immer reicher und die Armen ärmer“, sagte er manchmal bitter.
Als Schüler hörte Friedhelm gerne zu, wenn sein Vater von seinen Erlebnissen und Erfahrungen erzählte, und er konnte sich gut mit seiner politischen Einstellung identifizieren. Er wäre gerne wie Robin Hood gewesen, der von den Reichen nahm und ihren Überfluss unter die Armen verteilte.
Während seines Studiums – er studierte Geschichte und Politikwissenschaft an der Universität Freiburg – wurde ihm klar, dass es der freiheitlich-demokratische Staat war, der es ihm, dem Arbeiterkind, ermöglichte zu studieren was ihn interessierte und ihm die Voraussetzungen dafür gab, einen anspruchsvollen und gut bezahlten Job zu bekommen. Gleichzeitig entging es ihm jedoch nicht, dass es große Unterschiede zwischen den Studenten gab. Es gab diejenigen, die in einer kleinen Wohnung mit eigener Küche und eigenem Bad im Stadtzentrum lebten, und diejenigen, die in einem Dachkämmerchen hausten, in dem man nur an einer Stelle aufrecht stehen und sich an einem kleinen Waschbecken waschen konnte.
Er bewohnte als Student das kleinste Zimmer in einer WG. Dank Bafög, seiner Sparsamkeit und einiger Ferienjobs hatte er keine echten Geldsorgen.
Seine Eltern hätten es lieber gesehen, wenn er eine handwerkliche Lehre gemacht oder Maschinenbau studiert hätte. Dennoch versuchten sie nicht ihn von seinem Ziel abzubringen Journalist zu werden, was er ihnen heute noch hoch anrechnet. Sein Vater verstand seinen glühenden Wunsch, sich für die Benachteiligten in der Gesellschaft und in der Welt einzusetzen, die Missstände aufzudecken und Veränderungen einzufordern. So lange er zurückdenken kann, hatten sie politisch diskutiert. Seine Fähigkeit zu argumentieren hatte er mit seinem Vater beim Mittag- und beim Abendessen trainiert.
Immer wieder hatte man ihm gesagt, er habe Talent zum Schreiben, der Lehrer, der die Schülerzeitung betreute, die Professoren, die seine Hausarbeiten lasen, die Redakteure der Badischen Zeitung, die ihn im Volontariat ausbildeten. Aber er musste trotzdem hart arbeiten, bis er seine erste feste Anstellung bekam. Später musste er feststellen, dass auch harte Arbeit und Talent manchmal nicht ausreichten. Nicht nur einmal war er aufgrund der Intrige eines Kollegen oder einer Kollegin übergangen worden, bevor er erkannte, dass er keinem wirklich trauen konnte und dass er seine Stellung aktiv sichern und verteidigen musste.
Tief aufseufzend steht er auf, bringt das Whiskyglas in die Küche und leert den Inhalt in die Spüle.


XI

Regina lässt sich in ihren Lesesessel im Wohnzimmer sinken und legt die Beine hoch. Sie ist glücklich, dass Felix wieder zu Hause ist und erschöpft nach der Anspannung, die sie das ganze Wochenende über spürte.

Aus dem wenigen, das Felix ihr vom Trainingslager erzählte, schließt sie, dass er stolz darauf ist durchgehalten zu haben. Vom vielen Sport hat er Muskelkater und bei einem Geländespiel zog er sich eine Schürfwunde am Knie zu. Er verstand sich gut mit einem Jungen aus seiner Schule, der ein Jahr älter ist. Als sie ankamen, half er Felix sich zurechtzufinden. Er heißt Carlo, sein Hobby ist Kochen und er spielt ausgezeichnet Fußball. Felix bewundert vor allem seine Fähigkeit im richtigen Moment eine passende Bemerkung zu machen, über die alle um ihn herum lachen.
Natürlich würde Felix nichts von nationalsozialistischen Ritualen oder paramilitärischem Drill erzählen. Das erwartet sie auch gar nicht. Wird sie es ihm ansehen, wenn er in Schwierigkeiten ist?
Nachdem sie zusammen gegessen hatten - sie hatte Rinderrouladen mit Kartoffeln und Bohnen gekocht – half Felix ihr die Küche aufzuräumen und zog sich dann in sein Zimmer zurück. Er müsse noch etwas für die Schule vorbereiten und würde abends zu Hause bleiben.
Auch Regina hatte während des Abendessens interessante Neuigkeiten für Felix. Ihre Freundin Dina hatte eine E-Mail geschrieben, in der sie ankündigte, dass sie und ihre Familie in den Sommerferien wieder nach Berlin ziehen würden. Dinas Sohn Henni war Felix bester Freund bis vor etwa 5 Jahren als Hennis Vater eine Professur an einer Universität in den USA annahm. Die Familie wohnte im ersten Stock des Nachbarhauses, und Henni war nur 2 Monate früher als Felix geboren.
Dina ist Inderin. Regina mag sie sehr und bewundert sie auch. Sie strahlt die Gelassenheit und Würde einer Frau aus, die überall in der Welt zurecht kommt. So weit weg von ihrem Heimatland, von ihren Eltern und Geschwistern, hatte sie für sich und ihre Familie ein Zuhause geschaffen, und es war für sie natürlich, dass es nur auf Zeit sein würde.
Sie hatten sich auf dem Spielplatz im Köllnischen Park kennen gelernt und besuchten einander danach oft mit ihren Kindern. Da Henni ein temperamentvoller bewegungsfreudiger Junge war, zog sich Felix anfangs immer zu Regina zurück und schmiegte sich an sie. Es dauerte ein paar Wochen bis er sich an Henni gewöhnt hatte. Wenn Regina einen Termin hatte, zu dem sie Felix nicht mitnehmen konnte, durfte er bei Dina und Henni sein und umgekehrt war Henni oft bei ihnen. Während der gesamten Kindergarten- und Grundschulzeit waren Henni und Felix dann beste Freunde. Felix litt sehr darunter, dass Henni wegzog. Regina hoffte zwar, dass sie über E-Mail Kontakt halten würden, aber keiner von beiden schrieb gern.
Wie es wohl sein wird, wenn sie sich wiedersehen?


XII

...und wie ist es Felix seit letztem Wochenende ergangen?“ fragt Friedhelm.
Sie sitzen an einem Fensterplatz im Café Sahnehäubchen, um zu beraten, wie sie weiter vorgehen könnten. „Ich habe nichts Außergewöhnliches beobachtet, außer dass er jetzt öfter joggen geht. Darauf ist er auch ganz stolz“, erwidert Regina. „Am Dienstag und am Donnerstag hat er sich abends mit seinen Freunden von der 'Freien Jugend' zum Training getroffen, wie er es nennt. Gestern Abend ist er auch mit Freunden unterwegs gewesen.“
Weißt du schon, wann das nächste Trainingslager sein wird?“ fragt Friedhelm.
Felix hat noch nichts gesagt.“ antwortet Regina. „Du weißt ja wie er jetzt ist. Er wählt sorgfältig aus, was er mir erzählt. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass es ihm sehr wichtig ist mit mir gut auszukommen. Er fragt immer wann ich nach Hause komme, wir essen gemeinsam zu Abend und er hat angeboten für uns einzukaufen. Also stellen wir alle zwei bis drei Tage eine Einkaufsliste zusammen. Er nimmt mir damit wirklich viel Arbeit ab, und ich zeige ihm auch wie sehr ich mich darüber freue.“
Sie legt ihre rechte Hand beruhigend auf seine linke, die schlaff neben seiner Kaffeetasse liegt und schaut ihn prüfend an. Er wirkt sehr angespannt. Sein Gesicht ist hagerer geworden aber anders als während seiner Alkoholsucht. Sie ist sich sicher, dass er nicht wieder angefangen hat zu trinken.
Ich kann mir vorstellen, dass du dich quälst, weil er gar nichts mehr mit dir zu tun haben möchte. Aber du darfst die Hoffnung nicht aufgeben. Gönn dir ab und zu ein Stück Kuchen“, fügt sie lächelnd hinzu.



XIII

Friedhelm geht nicht sofort nach Hause. Die kalte Luft des Februarnachmittags tut ihm gut und während er durch die vertrauten Straßen geht, kann er seinen Gedanken freien Lauf lassen. Inspiriert durch die historischen Fassaden und Plätze hat er immer wieder Lösungsmöglichkeiten für schwierige Probleme gefunden. Aber was Felix betrifft, scheint es keinen Weg zu geben ihn zum Ausstieg aus der 'Freien Jugend' zu bewegen. Wieder fragt er sich, wie es dazu kommen konnte, dass Felix sich einer rechtsradikalen Organisation anschloss. Gut, er sagte, sie würden ihn verteidigen, also wird er wohl von seinen Mitschülern aufgezogen oder vielleicht sogar gemobbt? Irgendwelche fiesen Charaktere, die sich die sensibleren und ruhigeren Schüler vornehmen, gibt es ja in jeder Klasse. Regina muss unbedingt herausfinden, was dahinter steckt.
Aber warum geriet Felix ausgerechnet in die Fänge der Nazis? Sowohl Regina als auch er verabscheuen ihre rassistische Ideologie und ihr primitiv-destruktives Auftreten.
Zugegeben, auch er war als Jugendlicher systemkritisch und sympathisierte mit radikalen Ideen, weil er glaubte, dass sie die Welt zum Besseren hin verändern würden. „Deutschland den Deutschen“, „Ausländer raus“, dagegen, kann auf keinen Fall ein Fundament für eine funktionierende Staats- und Gesellschaftsordnung sein. Das ist nur unmenschlich und unwürdig, insbesondere angesichts der Deportation und Vernichtung so vieler Menschen im 'Dritten Reich'.
Friedhelm glaubt nicht, dass Felix wirklich ein Rassist ist. Wahrscheinlich ist es das Versprechen von Kameradschaft, von Sicherheit in einer verschworenen Gemeinschaft, das ihn so sehr anzieht.
Vielleicht hätten Regina und er dies verhindern können, wenn sie sich selbst mehr gesellschaftlich engagiert hätten. Als Felix in die Grundschule ging, versuchten sie zwar ihn bei einem Sportverein anzumelden, er fühlte sich dort aber nicht wirklich wohl und weigerte sich nach einiger Zeit ins Training zu gehen. Inzwischen ist sich Friedhelm bewusst – eher theoretisch als durch Erfahrung – dass die Erfolgschancen größer gewesen wären, wenn sie als Familie diese Dinge gemeinsam gemacht hätten – im Verein, in der Kirchengemeinde aktiv sein, Würstchen grillen und Kuchen verkaufen beim Fußballturnier oder dem jährlichen Gemeindefest. Als er sich selbst in dieser Rolle vorstellt, muss er laut lachen. Er ist wohl eher ein Einzelgänger.



XIV

Felix ist auf dem Weg vom Training nach Hause. Gerade hat er sich von Carlo verabschiedet, der ein Stück weit denselben Weg hat. Für Felix ist ihr gemeinsamer Heimweg immer ein Höhepunkt des Tages. Er genießt es mit Carlo die Beobachtungen auszutauschen, die sie während des Trainings machten, und die Leistungen und das Verhalten ihrer Kameraden zu beurteilen. Heute war Felix aufgefallen, dass Carlo mehrmals kritisiert wurde, obwohl er alles richtig zu machen schien, aber Carlo scheint es nichts auszumachen. Felix bewundert ihn dafür, dass er alles so leicht nimmt und dass ihm immer eine schlagfertige Bemerkung einfällt, mit der er die Lacher auf seine Seite zieht.
Der Klingelton seines Handys reißt Felix aus seinen Gedanken. Er erkennt Carlos Nummer und hört gleich nach dem Einschalten Carlo voller Angst leise sagen: „Ich werde verfolgt, bitte hilf mir.“
Wo bist du?“ fragt Felix sofort zurück, aber er hört nur noch einen Aufschrei und dumpfe Stöße. Dann ist die Verbindung unterbrochen. Ohne nachzudenken rennt Felix zurück bis zur Straßenecke, wo sie sich trennten und weiter in die Richtung, in die Carlo ging. Aufgrund der parkenden Autos kann er erst auf halber Strecke bis zum Ende der Straße sehen wo zwei dunkle Gestalten auf etwas am Boden eintreten und -schlagen. „Carlo, ich komme!“ schreit er so laut er kann, wobei die dunklen Gestalten sofort innehalten und um die nächste Ecke verschwinden. Felix spürt wie sich sein Magen zusammenkrampft, während er sich noch immer rennend dem Tatort nähert. Auf den letzten Metern muss er sich geradezu zwingen zu dem am Boden liegenden Bündel hinzugehen. Carlo liegt zusammengekrümmt auf der Seite. Sein Gesicht ist angeschwollen und aus seiner Nase strömt Blut. Er röchelt leise. Zum Glück atmet er noch.
Carlo“, sagt Felix heiser. „Ich bins, Felix. Ich bin jetzt bei dir und passe auf dich auf. Gleich kommt Hilfe.“
Er ertastet sein Handy in der Gesäßtasche, wählt mechanisch 112 und beantwortet noch immer außer Atem die Fragen der Notrufzentrale.
Dann wendet er sich wieder Carlo zu. Er traut sich nicht ihn anzufassen, überwindet sich aber und verschiebt seinen linken Arm und sein Knie etwas um ihn ganz in die stabile Seitenlage zu bringen. Dabei spricht er die ganze Zeit mit ihm in der Hoffnung Carlo würde dann nicht sterben.
Erst jetzt beginnt Felix wie von weit her die Stimmen der Menschen zu registrieren, die inzwischen einen Ring um ihn und Carlo gebildet haben.
Was ist passiert? Kann ich helfen?“ fragt eine junge Frau, die gerade hinzu gekommen ist, aufgeregt.“
Felix Mund ist so trocken, dass er nur ein unverständliches Krächzen hervorstößt. Da endlich hört er die Sirenen von Krankenwagen und Polizei.



XV

Regina steht vor Felix Schreibtisch, das Handy griffbereit neben sich und schaut aus dem Fenster. Sie hat kein Licht gemacht um die Straße beobachten zu können. Jedes Mal, wenn sie Schritte hört und jemand um die Ecke biegt, glüht die Hoffnung in ihr auf, dass es Felix ist. Sie lässt sich verschiedene Szenarien durch den Kopf gehen, die zu der Verspätung führen konnten.
Wie auch immer“, denkt sie verärgert. „Er hätte auf jeden Fall anrufen müssen.“
Sie hatte sich schon ins Bett gelegt, war aber wieder aufgestanden als Felix nicht zur vereinbarten Zeit, um 22 Uhr, die Wohnungstür aufschloss. Nun hat sie schon länger als eine halbe Stunde gewartet. Soll sie die Polizei anrufen?

Da klingelt ihr Handy, aber sie sieht sofort, dass es nicht Felix ist. Sie fummelt nervös nach dem Einschaltknopf und haucht „Ja?“
Frau Dr. Rebmann?“ erklingt eine Männerstimme.
Ja, das bin ich“, sagt sie mechanisch..
Wagner, Kriminalpolizei“, klingt es an ihr Ohr, während ihr Herz einen Schlag aussetzt. “Ihr Sohn Felix ist in Sicherheit. Bis auf einen leichten Schock ist er unverletzt. Er hat einem Freund geholfen, der zusammengeschlagen wurde. Er wurde mit ihm in die Charité eingeliefert. Wir bringen ihn gleich zu Ihnen nach Hause.“
Regina schaltet das Handy aus und legt ihren Kopf auf die Arme.
Zum Glück ist ihm nichts passiert“, denkt sie.



XVI

Sie sagt früh morgens gleich alle ihre Termine für den Tag ab. Dann besorgt sie Brötchen für ein leckeres Frühstück und wartet bis Felix aufsteht. Jetzt kommt er etwas unsicher manövrierend in die Küche und setzt sich ihr gegenüber an den Küchentisch.
Hallo Mama“, sagt er gequält und kneift die Augen etwas zusammen.
Hallo Felix“, sagt sie liebevoll. „Du brauchst jetzt nicht gleich zu erzählen. Lass dir so viel Zeit wie du brauchst.“
Aber es ist wichtig“, bricht es aus ihm hervor. „Carlo hat mir gesagt, dass er Siggi von der 'Freien Jugend' erkannt hat. Er war einer der Schläger. Das muss die Polizei wissen.“ Er stöhnt tief auf und stützt seinen Kopf mit den gespreizten Fingern beider Hände. „Wie Friedhelm“, fährt es Regina durch den Kopf.
Ich ruf gleich an“, sagt sie.

Wenig später sitzen sie mit Kommissar Wagner und einer jüngeren Kollegin, die das Protokoll schreibt, um den Wohnzimmertisch. Felix fällt es sichtlich schwer Worte zu finden. Über Siggi kann er nur sagen, dass er groß ist und muskulös. Seine blonden Haare sind sehr kurz geschoren und die blauen Augen leuchten auffällig aus dem braun gebrannten Gesicht hervor. Felix schätzt ihn auf etwa 30 Jahre. Er ist einer der Leiter ihrer Gruppe der 'Freien Jugend'.
Gut möglich, dass sein richtiger Name gar nicht Siggi ist“, murmelt Felix beschämt.
Da könntest du recht haben.“ Kommissar Wagner lächelt ermutigend.
Ich kann ihn für Sie zeichnen“, bietet Felix an.
Kommissar Wagner beobachtet staunend wie sich aus Felix geübten Bleistiftstrichen in kürzester Zeit ein lebendiges Porträt entwickelt.
Den kenne ich“, meint er dann trocken. „Danke Felix, du hast uns sehr geholfen. Weißt du denn, warum sie Carlo zusammengeschlagen haben?“
Felix zögert. „Carlo ist anders“, sagt er dann. „Er hat nicht alles so ernst genommen wie ich und die anderen. Ich mag ihn, weil er immer guter Laune ist und uns zum Lachen gebracht hat und dachte die anderen mögen ihn auch. Vielleicht hat er alles durchschaut. Aber warum ist er dann nicht weggeblieben?“
Kommissar Wagner steht seufzend auf und verabschiedet sich von Regina und Felix. Regina bringt die beiden Polizisten zur Wohnungstür.


XVII

Friedhelm steht vor der Wohnungstür im dritten Stock und drückt den Klingelknopf. Nervös öffnet er die obersten Knöpfe seines Mantels als sich die Tür öffnet und Regina ihn lächelnd hereinbittet.
Er folgt ihr in die Küche, und begrüßt Felix, der müde und mitgenommen am Tisch sitzt.
Ich bin so froh, dass du heil davongekommen bist“, sagt er mit Erleichterung in der Stimme.
Er setzt sich Felix gegenüber und freut sich als Regina ihm eine Tasse Kaffee anbietet.
Wie geht es dir denn?“ fragt er und schaut Felix dabei besorgt an.
Ich muss die ganze Zeit an Carlo denken“, sagt Felix in die Stille hinein. „ … wie sie auf ihn eintraten …. sein geschwollenes Gesicht, das Blut … und wie er zusammengekrümmt auf dem Boden lag.“
Carlo ist noch auf der Intensivstation, aber er ist außer Lebensgefahr“, ergänzt Regina. „Er hat schwere Kopfverletzungen und Prellungen am ganzen Körper. Es ist ...“ Sie stockt, verzieht das Gesicht wie in Schmerzen und fährt dann gequält fort: „... noch nicht sicher, ob er wieder ganz gesund wird. Auf jeden Fall wird er sehr lange an dem Trauma leiden, das der Überfall verursacht hat.“
Wie vereinbart bleibt Friedhelm nicht lange, damit Felix sich ausruhen kann. Als er sich verabschiedet, erwidert Felix seinen liebevollen Blick einen Moment lang und sagt: „Es tut mir Leid, Papa.“
Ist in Ordnung“, antwortet Friedhelm lächelnd.
Während Regina Friedhelm zur Wohnungstür begleitet, sagt sie noch leise: „Gestern Abend hab ich den Restmüll zur großen Tonne gebracht. Rat mal was darin lag.“ Sie macht eine bedeutungsvolle Pause, während der sie Friedhelms verständnislosen Gesichtsausdruck genießt. „ … Felix schwarzer Kapuzenpulli“, sagt sie dann strahlend vor Glück.



XVIII

Regina geht noch einmal durch die Räume ihrer Praxis um ganz sicher zu sein, dass sie alle elektrischen Geräte ausgesteckt, alle Fenster geschlossen und die Rolläden halb heruntergelassen hat. Ihre Tasche mit dem Material, das sie sich während ihres Urlaubs ansehen will, steht schon an der Tür. Nun holt sie noch den Restmüllbeutel aus der kleinen Küche, wirft einen letzten prüfenden Blick rundum und steigt dann die Treppe hinunter auf die Straße.
Morgen wird sie nach Hamburg zu ihren Eltern fahren, wo Felix, Carlo und Henni bereits seit einer Woche Ferien machen. Sie freut sich schon lange darauf. Felix erzählte am Telefon, dass Carlo vom Hafen fasziniert ist und dass sie deshalb schon mehrmals dort waren. Bei einer Hafenrundfahrt bestaunten sie die riesigen Containerschiffe, die be- oder entladen wurden. Einmal konnten sie beobachten wie ein Kreuzfahrtschiff in den Hafen einfuhr. Ein besonderes Erlebnis war auch der Traditionsschiffhafen. Carlo träumt nun davon einmal auf einem der historischen Segelschiffe mitzusegeln, die dort vertäut liegen.
Regina ist froh darüber, denn Carlo braucht Träume, um nicht von seinen schrecklichen Erinnerungen zermürbt zu werden. Körperlich hat er sich ganz gut erholt, aber er muss sich noch schonen. Sobald er sich anstrengt, bekommt er Kopfschmerzen. Laut Felix schläft er nachts unruhig und wacht manchmal mit einem Schrei von einem Albtraum auf.
Carlo hatte sich der 'Freien Jugend' angeschlossen, weil er etwas gegen die Nazis tun wollte. „Wie mein Opa und mein Uropa“, erzählte er einmal mit einem gequälten Lächeln als Felix und Regina ihn im Krankenhaus besuchten. „Sie haben sich der Resistenza angeschlossen und gegen die Faschisten gekämpft.“ Als Felix beitrat, wollte Carlo eigentlich schon aussteigen, er hatte aber große Angst vor der Rache der 'Kameraden'.
Ende Juni zogen Dina und ihre Familie wieder in Berlin ein. Seither hat sich Henni mit Felix zusammen um Carlo gekümmert. Die drei planen jetzt schon eine gemeinsame Reise durch die USA für die Zeit nach ihrem Abitur.
Auf eigenen Wunsch verbringt Felix nun jede Woche ein paar Stunden mit Friedhelm. Regina weiß, dass sie lange Spaziergänge machen, besonders im ehemaligen Grenzgebiet und dass Friedhelm Felix vom geteilten Berlin und der Zeit des Mauerfalls erzählt, als sie sich kennen lernten. Ende Juli, in der Woche bevor die Schule wieder beginnt, wird Friedhelm mit Felix für ein paar Tage nach Danzig fahren.
Regina drückt die Haustür auf und steigt die drei Stockwerke zu ihrer Wohnung hinauf. Ein wenig außer Atem kramt sie in ihrer Handtasche nach dem Schlüsselbund und öffnet die Wohnungstür. Wie immer wenn Felix ein paar Tage nicht zu Hause ist, muss sie einen Moment lang gegen die Leere ankämpfen, die sie umfängt. Sie spürt aber sofort wie lächerlich das jetzt ist, denn sie hat allen Grund sich glücklich zu fühlen. Felix hat einen Vater, gute Freunde und Pläne für die Zukunft. Er ist außer Gefahr.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen