Der verlorene Sohn
von
Gudrun Rogge-Wiest
2012-13
Ähnlichkeiten
mit lebenden Personen sind
rein
zufällig und nicht beabsichtigt.
Kapitel
I bis V wurden durch 'My Son the Fanatic'
von
Hanif Kureishi inspiriert
I
Leicht
außer Atem wie immer, wenn sie die drei Stockwerke hinaufsteigt,
stellt Regina beide Einkaufstaschen vor der Türschwelle ab, kramt in
der Handtasche nach dem Schlüsselbund und öffnet die Wohnungstür.
“Hallo,
mein Schatz, bin zu Hause!” schmettert sie fröhlich in die
geräumige, helle Altbauwohnung hinein. Das ungnädige Brummen, das
für sie gerade hörbar aus dem ersten Zimmer links an ihr Ohr
dringt, erwidert sie mit einem zärtlichen Lächeln.
“Es
gibt gleich Essen”, ruft sie fröhlich, während sie in der Küche
die Einkaufstaschen auspackt. “Ich hab zwei Döner mitgebracht,
mit viel Zwiebeln und scharfer Sauce, so wie du sie am liebsten
magst.”
Sie
freut sich auf das gemeinsame Abendessen. In letzter Zeit ist er zwar
noch schweigsamer geworden, aber so sind Jungs eben in diesem Alter.
Während sie den Tisch deckt, hört sie wie seine Tür aufgeht und
dann das Klirren des Schlüsselbunds, als er ihn vom Haken nimmt.
“Ich
will nichts essen, ich treff mich noch mit Freunden”, ruft er ohne
sie in der Küche zu begrüßen und zieht schon die Wohnungstür
hinter sich zu.
“Wann
…?” will sie noch fragen, aber er kann sie schon nicht mehr
hören.
Ihre
Vorfreude schlägt in tiefe Traurigkeit um. Seit sie sich
selbstständig machte, hat sie oft zu wenig Zeit für ihn gehabt. Die
Psychotherapiepraxis, die sie übernahm, fand von Anfang an
großen Zuspruch und sie konnte den Kreis ihrer Patientinnen und
Patienten schnell erweitern, so dass sie bald ganztägig in der
Praxis beschäftigt war. Anfangs versuchte sie wenigstens zwei
Nachmittage in der Woche zu Hause zu sein, aber auf längere Zeit
gesehen konnte sie nicht den Mut aufbringen neue Patienten
abzuweisen. So ist sie immer erst abends nach Hause gekommen.
Inzwischen
ist Felix 16 und geht in die 10. Klasse des Marie-Luise-Gymnasiums.
Er gehört weder zu den besten noch zu den beliebten Schülern, und
sie glaubt zu spüren, dass er nicht mehr offen über die Schule und
sein Verhältnis zu den Mitschülern spricht. Schade, dass er keinen
wirklich guten Freund hat
und dass er kein wirkliches Interesse für irgendein Fach entwickelt
hat, in dem er durch gute Leistungen Selbstbewusstsein und
Anerkennung gewinnen könnte.
In
der letzten Zeit ist er oft nach dem Abendessen noch nach
draußen gegangen um sich mit 'Freunden'
zu treffen.
II
Hungrig
wie sie vorher war, kann sie
jetzt doch nichts essen, und es zieht sie in sein Zimmer.
Die
Vorhänge sind nicht zugezogen, so dass die Straßenlaterne vor dem
Haus den Raum in ein orangefarbenes Licht taucht. Sie bleibt vor dem
Schreibtisch stehen und schaut auf die Straße hinaus. Durch den
dichten orange leuchtenden Nebel kann sie kaum bis zur anderen
Straßenseite sehen. Hin und wieder hastet ein Fußgänger den Gehweg
entlang, die Schultern fröstelnd hoch gezogen, den Blick voraus
gerichtet, in Gedanken schon zu Hause.
Sie
setzt sich auf den Drehstuhl vor dem Schreibtisch und lässt ihre
Augen nachdenklich durch den Raum schweifen. Das E-Piano ist von
kreuz und quer gestapeltem Papier bedeckt. Seit September nahm er
keine Klavierstunden mehr. Sie hat immer wieder versucht ihn zu
motivieren, aber er hatte schon lange keine Lust mehr zu üben. Ihre
Augen wandern zum Bücherregal. Ob er noch liest? Das ist ihr immer
wichtig gewesen, und sie schenkte ihm von Zeit zu Zeit Bücher oder
gab ihm Tipps, was er sich in der Bibliothek ausleihen könnte. Als
sie beide nach und nach alle sieben Harry-Potter-Bände lasen,
teilten sie beim Abendessen ihre
Eindrücke
miteinander. Das war eine glückliche Zeit.
Die
Türen des Kleiderschranks an der gegenüberliegenden Wand stehen
halb offen. Den schwarzen Kapuzenpulli, den er so gerne trägt, hat
er über die linke Tür geworfen. Zwischen den Türen quellen
T-Shirts und Hosen hervor, die er nicht aufgehängt hat. Das Poster
rechts neben dem Schrank ist neu. Es zeigt einen Krieger, der mit
heruntergeklapptem Visier und gezücktem Schwert auf sie zuspringt.
Mit
einem tiefen Seufzer steht sie auf und schaut noch einmal zum Fenster
hinaus. Während sie sich zum Gehen umwendet, fällt ihr Blick auf
den Schreibtisch. Zwischen dem über die Tischfläche verstreuten
Papier kann sie einige der Comicfiguren sehen, die er auf die
Schreibunterlage gezeichnet hat. Viele davon kennt sie nicht, aber da
sind auch Mickey Mouse und Donald Duck in verschiedenen lustigen
Posen. Sie scheinen vor Übermut aus dem Papier herauszupurzeln.
Regina bewundert Felix Talent sie so lebendig wirken zu lassen.
Die
Figuren mit den Schildkrötengesichtern und einer Binde über den
Augen, die Löcher für die Augen frei lässt, schauen auch ganz
lustig drein. Aber da ist auch wieder dieser Krieger, den sie schon
auf dem Poster gesehen hat. Das gebogene Schwert in seiner linken
Hand zur Abwehr vor die Brust gehalten, in der rechten ein kurzes
Schwert wie zum Stoß bereit stürzt er auf sie zu. Was das wohl
bedeuten soll?
Tief
aufseufzend steht sie auf und schaut noch einmal aus dem Fenster.
Während sie sich zum Gehen umwendet, bemerkt sie ein Foto, das an
der Ablage in der linken hinteren Ecke des Schreibtischs lehnt.
Einige dunkle Gestalten sind darauf abgebildet. Nachdem sie die
Schreibtischlampe angeknipst hat, sieht sie, dass es junge Männer
sind, die schwarze Kapuzenpullis tragen und wie eine
Fußballmannschaft zum Fototermin aufgestellt sind. Durch den
Schatten, den die Kapuzen werfen, sind ihre Gesichter kaum zu
erkennen. Ob das Felix Freunde sind? Hinter der Gruppe ist ein
Transparent aufgespannt mit der Aufschrift 'Freie Jugend' in
gotischer Schrift, schwarz auf weißem Hintergrund und eingerahmt von
gleichschenkligen Kreuzen am rechten und am linken Rand. Sie könnte
Friedhelm anrufen. Als junger Journalist hat er einmal über
Jugendkulturen geschrieben. Sie wollte sowieso schon lange mit ihm
über Felix sprechen.
III
Regina
hängt ihren Mantel an der Garderobe in der Gaststube des 'Goldenen
Drachen' auf und dreht sich langsam zu dem Tisch am Fenster hin um,
wo Felix und Friedhelm sich gerade mit Handschlag begrüßen. Sie
bemerkt dass Felix mit einem verschlossenen fast düsteren
Gesichtsausdruck an seinem Vater vorbei schaut. Es hat sie große
Mühe gekostet ihn zu dem gemeinsamen Abendessen zu überreden. Jetzt
hofft sie, dass er mit der Zeit auftauen wird, und
dass sie miteinander auskommen werden.
“Jetzt
erzähl mal”, hört sie Friedhelm zu Felix sagen.
“Was
möchtest du denn hören?” fragt Felix genervt zurück.
“Na,
wie es dir so geht. In der Schule. Was du in deiner Freizeit machst”,
sagt Friedhelm in bewusst leichtem freundlichen Tonfall.
“Das
willst du doch nicht wirklich wissen”, erwidert Felix misstrauisch.
“Gib
mir doch eine Chance, Felix”, bittet Friedhelm. “Deiner Mutter
und mir kannst du vertrauen. Wir wissen, dass auch einmal etwas
schief gehen kann. Auch wir haben Fehler gemacht.”
“Gar
nichts wisst ihr”, knurrt Felix feindselig.
“Lasst
uns doch erstmal was zu essen aussuchen”, unterbricht Regina
nervös.
“Warum
essen wir überhaupt hier?” fragt Felix unmutig. “Das Essen hier
schmeckt mir nicht. Ihr immer mit eurem Multikulti-Tick.”
“Wenn
wir höflich fragen, können wir bestimmt auch Pommes und ein
Schnitzel bekommen”, sagt Regina versöhnlich.
“Darum
geht es doch gar nicht”, erwidert Felix müde. “Ich habe dieses
Multikulti-Gesülze einfach satt. Überhaupt geht mir euer
Kulturfimmel auf die Nerven … 'hast du heute Klavier geübt? Was
liest du denn gerade? Hast du nicht Lust mal zu einer Schnupperstunde
ins Junge Theater zu gehen?' … Ihr habt doch überhaupt keine
Ahnung!”
“Was
zieht dich denn zur 'Freien Jugend'?“ fragt Friedhelm. “Mum hat
das Foto auf deinem Schreibtisch gesehen.”
“Dort
habe ich Freunde gefunden”, sagt Felix trotzig. “Sie hören mir
zu und sie verstehen, warum ich mich manchmal scheiße fühle in der
Schule. Sie haben gesagt, dass sie jeden zusammenschlagen, der über
mich lacht. Am nächsten Wochenende
geh ich mit ins Trainingslager.“
“Das
kommt überhaupt nicht in Frage!” sagt Friedhelm, der blass
geworden ist, in entschiedenem Tonfall.
“Dann
eben nicht!” schreit Felix ihn an. “Ich bleibe jedenfalls bei
der 'Freien Jugend', ob du es nun gut findest oder nicht!” Er stößt
den Stuhl zurück, dass er krachend umfällt und stürmt zur
Gaststube hinaus.
IV
Friedhelm
hat gerade seinen Artikel zum 75. Jahrestag des Reichstagsbrands zum
letzten Mal Korrektur gelesen. Nun macht er müde aber zufrieden die
Tür zum Redaktionsbüro hinter sich zu, hüllt sich in seinen warmen
Wintermantel ein und steigt die drei Stockwerke zur Straße hinunter.
Als er die Haustür öffnet schlägt ihm raureifkalte Luft entgegen,
und er blinzelt in das grelle Sonnenlicht. Trotz der Kälte sind
erstaunlich viele Menschen unterwegs. Sie nutzen den Samstag
Nachmittag zum Einkaufen und Schaufenster bummeln. Er liebt es in die
Menschenmenge einzutauchen und sich von ihrer Lebensfreude anstecken
zu lassen. Nachdem er sich so intensiv mit den Gräueltaten der
Nazis beschäftigt hat, empfindet er fast so etwas wie Stolz auf das
heutige Deutschland, mit den im Grundgesetz festgeschriebenen
Bürgerrechten und Menschenrechten als sicherem Fundament einer
demokratischen Gesellschaftsordnung. Statistisch
gesehen sind Intoleranz und Rassenhass nur noch unschöne
Randerscheinungen.
Kurz
entschlossen schlägt er den Weg zum 'Sahnehäubchen', seinem
Lieblingscafé, ein, um noch eine Weile der Einsamkeit seiner Wohnung
und den quälenden Sorgen um Felix auszuweichen. An seinem
Fensterplatz im ersten Stock genießt er es bei einer Tasse schwarzen
Kaffees und einem Stück Käsesahne das Leben auf der Straße zu
beobachten.
Er
muss tief in Gedanken gewesen sein, denn auf einmal wird ihm bewusst,
dass sich das Bild vor seinen Augen geändert hat. Keine 30 Meter
von ihm entfernt hat sich an der nächsten Straßenecke ein
Menschenauflauf gebildet. Polizisten mit Schutzhelmen und
Schutzschilden sperren den Zugang zur Oranienburgerstraße ab.
Schwarz gekleidete junge Leute versuchen an verschiedenen Stellen
sich zwischen den Polizisten durchzudrängen, werden aber abgewehrt.
Er kann ihre aufgebrachten Stimmen hören.
Inzwischen
ist ihm der Grund für die Absperrung klar geworden. Auf der
Friedrichstraße bewegt sich eine Demo in seine Richtung. Die
Demonstranten tragen schwarze Kapuzenpullis, die Kapuzen hängen
ihnen über die Stirn, so dass die Gesichter im Schatten liegen. Nun
kann er die Slogans auf den Transparenten lesen: 'Knechtschaft
überwinden' und 'Multikultur tötet' und 'Freie Jugend gegen
Mulitkulti'. Er senkt den Blick auf seine Tasse, in der sich noch
eine Bodendecke Kaffee befindet, tiefschwarz, so dass der Tassenboden
nicht durchscheint.
V
Er
sitzt auf dem Sofa und starrt in das halb leere Glas Whisky, das er
zwischen seinen Händen hält. Er ist verzweifelt. Was soll er tun?
Er muss mit Felix sprechen, am besten heute Abend noch. Aber was soll
er sagen? Er steht auf und geht ruhelos vom Wohnzimmer in sein
Arbeitszimmer, von dort in die Küche und wieder ins Wohnzimmer
zurück. Er kann keinen klaren Gedanken fassen. Draußen ist es
dunkel geworden. Er nimmt seinen Mantel von der Garderobe im Flur und
macht sich auf den Weg zu Reginas Wohnung.
Er
kann ihr die Überraschung und die tiefe Skepsis ansehen, die sie
verspürt, als sie ihn auf der Türschwelle stehen sieht. Wortlos
zeigt sie auf Felix Tür und zieht sich dann in die Küche zurück.
Sein Herz klopft schnell und laut als er die Tür öffnet.
Felix
steht in der Mitte seines Zimmers mit leicht gespreizten Beinen und
hoch erhobenem Kopf und schaut Friedhelm herausfordernd an. “Was
willst du?” fragt er drohend.
“Ich
wünsche mir, dass wir Freunde werden”, sagt Friedhelm freundlich.
“Ich
brauche dich nicht mehr, ich habe Freunde”, erwidert Felix ruhig
und kalt. “Und es ist mir egal ob dir das passt oder nicht!”
Er
dreht sich um, setzt sich auf den Drehstuhl vor seinen Schreibtisch
und schaut aus dem Fenster.
Mit
zwei langen Schritten ist Friedhelm bei Felix. Voller Wut packt er
seine Schultern, schüttelt ihn und brüllt: “Du Idiot! Du weißt
nicht was du tust!”
Dann
schlägt er verzweifelt seine Hände vors Gesicht und wendet sich ab.
Tiefe Hoffnungslosigkeit erfasst ihn, als er aus der Wohnung
hinausstürmt.
VI
Nachdem
sie Friedhelm geöffnet hat, geht Regina wieder in die Küche, setzt
sich an den Küchentisch und schaut auf ihre Hände, die vor ihr auf
dem Tisch liegen, die Finger miteinander verschränkt. Sie
bezweifelt, dass Friedhelm es schaffen wird Felix umzustimmen. Er
glaubt immer, dass man alles möglichst sofort in Ordnung bringen
muss, so wie man einen abgesprungenen Knopf annäht. Aber in
Beziehungen ist das nicht so einfach.
Da
hört sie ihn brüllen, und gleich darauf fällt die Wohnungstür ins
Schloss.
Sie
kann ihn ja verstehen. Es war sein Versuch Felix der unheimlichen
Macht zu entreißen, an die sie ihn verloren. Sie selbst hat den
Impuls unterdrückt mit Felix eine Grundsatzdebatte zu führen. Wenn
sie versucht ihn zu beeinflussen, reagiert er ja doch nur genervt.
Andererseits wird er sich vielleicht immer stärker mit der Gruppe
identifizieren, je länger er an ihren Aktivitäten teilnimmt.
Felix
ist ihr ein Rätsel. Wie konnte es kommen, dass sich ausgerechnet ihr
Kind in einer rechtsradikalen Organisation wohl fühlt? Sie hat auf
rechtsradikale Gedanken immer mit Unverständnis und Abscheu
reagiert. Menschen nur wegen ihrer Religion oder ihrer Herkunft
abzulehnen erscheint ihr unendlich primitiv. Wie kann ein Mensch nur
so von Hass erfüllt sein?
Sie
würde gerne mit jemandem über ihre Sorgen und Ängste sprechen,
aber sie bringt es nicht übers Herz ihre Mutter damit zu belasten,
und sie schämt sich vor ihren Freundinnen. Sie hat sich noch nie so
einsam gefühlt.
Mit
großer Willensanstrengung gelingt es ihr in der folgenden Woche sich
in der Praxis auf ihre Arbeit zu konzentrieren, aber so bald sie sich
auf den Weg nach Hause macht, kreisen ihre Gedanken unaufhörlich um
Felix. Er wich ihr aus, als sie ihn auf die Auseinandersetzung mit
seinem Vater ansprach, und sie will nicht weiter in ihn dringen. Sie
weiß, dass er sich am Sonntag Nachmittag zum Fußballspielen mit
seinen neuen Freunden traf. Am Montag morgen ging er wie immer zur
Schule. Als sie am Montag spät nachmittags auf dem Heimweg war,
stieß sie auf der Straße vor dem Haus mit ihm zusammen. Er trug
eine Sporthose und Sportschuhe, war ganz verschwitzt und außer Atem
und keuchte:
„Ich
war noch eine Runde laufen.“
„Es
tut ihm sicher gut, wenn er mehr Sport macht“, denkt sie.
Sie
hatte sich immer um ihn gesorgt, weil er so auffällig sensibel war.
Als Kleinkind war er zwar vorsichtig aber gleichzeitig unbeholfen, so
dass er sich oft weh tat. Er weinte viel, auch wenn nur eine Tür
zuknallte oder in der Küche ein Teller oder ein Glas zu Boden fiel.
Wenn sie sich mit Friedhelm nicht einig war und sie ein
Streitgespräch führten, spürte er es sofort, auch wenn sie
einander nicht anschrien.
Am
liebsten hatte er es, wenn sie sich zu ihm auf den Boden setzte und
mit ihm spielte oder ihm vorlas. Er war immer ein Mamakind gewesen.
Anderen Menschen gegenüber war er sehr scheu und ängstlich. Wenn
sie mit Felix Freundinnen besuchte, saß er die meiste Zeit auf ihrem
Schoß und ließ sie nicht alleine aus dem Zimmer gehen. Es war ihr
sehr schwer gefallen, sich darauf einzustellen. Eine Zeit lang
fremdelte Felix sogar, wenn Friedhelm nach Hause kam, was diesen tief
verletzte.
Um
Felix mit anderen Kindern zusammenzubringen suchte sie früh den
Kontakt mit anderen Müttern. Einmal in der Woche gingen sie in eine
Krabbelgruppe, aber Felix bewegte sich kaum von ihr weg. Es war auch
sehr schwierig, ihn an einen Kindergarten zu gewöhnen, aber sie
wollte unbedingt wieder arbeiten. Vielleicht spürte Felix ja, dass
sie eigentlich nicht den ganzen Tag mit ihm zu Hause sein wollte, so
dass er sich umso mehr an sie klammerte.
Nur
wenn sie mit Felix ihre Eltern in Hamburg besuchte, klammerte er
nicht. Während der drei Jahre, in denen sie noch Klinikerfahrung für
ihre Anerkennung als Fachärztin sammeln musste, lebten sie und Felix
deshalb bei ihren Eltern. Das geräumige Haus und der große Garten
waren Felix Paradies. Er konnte stundenlang im Sandkasten sitzen und
Kuchen für Oma und Opa backen. Im Sommer stellten sie ein
aufblasbares Plantschbecken auf. Wenn Regina von der Klinik nach
Hause kam, hörte sie Felix manchmal schon am Gartentor übermütig
quietschen und lachen.
Sie
wusste, dass sich Friedhelm von diesem glücklichen Familienleben
ausgeschlossen fühlte. Sein Verhältnis zu ihren Eltern,
insbesondere zu ihrem Vater, war immer etwas distanziert, wenn
nicht angespannt.
„Ich
habe das Gefühl, dein Vater hat eine Diagnose über mich erstellt
und die lautet, dass ich deiner nicht ganz würdig bin“, sagte er
einmal.
Ihrem
Vater wäre es natürlich am liebsten gewesen sie hätte einen Arzt
geheiratet. Ein Journalist – das war für ihn kein solider Beruf
für einen Mann, der eine Familie ernähren musste.
„Nichts
gegen dich persönlich. Aber die meisten Journalisten sind doch mehr
an Skandalen als an objektiver Berichterstattung interessiert.“
sagte er.
Obwohl
er in seiner Praxis und im Krankenhaus mit viel Leid konfrontiert
wurde, begegnete er Friedhelms gesellschaftskritischer Einstellung
mit Unmut.
„Man
kann die Welt doch nicht mit Worten verbessern.“ sagte er einmal
gereizt. Friedhelm reagierte zwar bewundernswert gelassen, Regina
spürte jedoch, wie sehr es ihn wurmte von ihrem Vater so gedemütigt
zu werden.
Zugegeben,
sie selbst hätte mehr dazu beitragen müssen, dass Friedhelm ein
Teil der Familie blieb. Aber sie konnte es nicht akzeptieren, dass er
so wenig zu Hause war. Theoretisch verstand sie es zwar, dass er als
Journalist viel unterwegs sein und oft abends und am Wochenende
arbeiten musste, aber sie wünschte sich trotzdem, dass er mehr Zeit
mit ihr und Felix verbringen würde.
Als
sie nach der letzten Facharztprüfung wieder in ihre Wohnung in
Berlin zurückkehrten, hoffte sie, zwischen Friedhelm und Felix würde
ein neues innigeres Verhältnis entstehen. Felix war jedoch auch mit
sieben Jahren noch ungern mit Friedhelm allein. Er fragte dann oft,
wann Mama wiederkommen würde, was Friedhelm natürlich frustrierte.
Wie
auch immer - Friedhelm zog sich mehr und mehr in seine Arbeit
zurück. Als Felix acht Jahre alt war, begann er auch Aufträge im
Ausland anzunehmen. Jedes Mal wenn er zurückkam, verhielt sich Felix
ablehnend. So war die Beziehung zwischen den beiden immer schwierig
gewesen.
Im
Rückblick ist sich Regina bewusst, dass Friedhelm sich sehr viel
Mühe gab. Bei allen Rückschlägen hat er es nie aufgegeben, sich um
Felix Vertrauen und um seine Zuneigung zu bemühen. Jetzt ist er
bestimmt zutiefst deprimiert über das Misslingen seines
Versöhnungsversuchs. Sie beschließt sich mit ihm zu verabreden um
mit ihm zusammen zu überlegen, wie sie vorgehen könnten um Felix
nicht ganz zu verlieren.
VII
Er
sieht sie gleich beim Hereinkommen an einem Tischchen am Fenster
sitzen, ihr Gesicht zur Straße hingewandt.
„Entschuldige
die Verspätung“, sagt er zur Begrüßung. „Ich musste das
Feuilleton für die morgige Ausgabe noch zu Ende redigieren.“
„Macht
nichts“, erwidert sie beruhigend. „Ich bin nicht in Eile. Es tut
mir gut hier zu sitzen und nichts zu tun.“
Er
bestellt sich eine Tasse Kaffee und lehnt sich dann mit einem
resignierten Gesichtsausdruck zurück.
„Kein
Kuchen?“ fragt sie lächelnd.
„Kein
Appetit mehr auf Kuchen“, gibt er zurück. „Den Kaffee brauche
ich aber zum Überleben. Seit Samstag fühle ich mich wie der letzte
Idiot. Bei Felix bin ich jetzt sicher komplett untendurch.“
„Dass
du die Fassung verloren hast, zeigt doch auch wie sehr du dich um ihn
sorgst“, meint Regina tröstend.
„Ich
hätte ihn aber auf keinen Fall packen und schütteln dürfen“,
gesteht Friedhelm gequält. Er lehnt sich nach vorn, stützt die
Ellbogen auf den Tisch und lässt den Kopf schwer zwischen die
gespreizten Finger beider Hände sinken. „Hast du denn seither mit
ihm gesprochen?“
Regina
schüttelt den Kopf.
„Er
spricht nicht viel und schon gar nicht über seine Gefühle. Du hast
es ja selbst erlebt. Wenn man ihn direkt auf sein Verhältnis zur
'Freien Jugend' anspricht, blockiert er.“
„Was
können wir jetzt noch tun?“ fragt Friedhelm verzweifelt.
„Ich
schlage vor wir erlauben ihm am nächsten Trainingslager
teilzunehmen“, sagt Regina.
„Damit
er noch tiefer in die rechtsradikale Szene hinein gerät?“ fragt
Friedhelm sarkastisch.
„Die
Gefahr besteht natürlich schon“, gibt Regina zu. „Andererseits
glaube ich kaum, dass Felix schon alle Seiten der 'Freien Jugend'
kennt. Möglicherweise wird er im Trainingslager Dinge sehen und
erleben, die auch ihm nicht gefallen und die seine Illusionen
zerstören. So weit ich ihn kenne, wird er sich erstmal anpassen und
sich bemühen nichts falsch zu machen, so dass wenig Gefahr besteht,
dass ihm ein Leid angetan wird.“
Friedhelm
schaut nachdenklich aus dem Fenster auf die belebte Gasse. Der Plan
erscheint ihm zu gewagt. Am liebsten wäre es ihm wenn Felix sofort
und für immer den Kontakt zur 'Freien Jugend' abbrechen würde. Aber
Regina hat Recht. Er würde sich nicht durch die Argumentation der
Eltern beeinflussen lassen. Ein Trainingslager – von Freitag
Nachmittag bis Sonntag gegen Mittag. Kaum 48 Stunden. Natürlich ist
es gut möglich, dass Felix sich danach noch stärker mit der Gruppe
identifiziert.
Was
müsste passieren damit er sich von der rechten Szene distanziert?
Und wenn es so weit kommt, wie könnte man ihn davor schützen als
Verräter verfolgt und bestraft zu werden? Dann müssten sie auf
jeden Fall die Polizei einschalten.
Seufzend
wendet sich Friedhelm wieder Regina zu.
„Also
gut. Er soll an dem Trainingslager teilnehmen. Es scheint unsere
einzige Chance zu sein“, sagt er.
„Da
ist noch eine Kleinigkeit“, zwingt sich Regina zu sagen, aber sie
kann Friedhelm dabei nicht ansehen. „Es wird höchstwahrscheinlich
nicht bei einem Trainingslager bleiben.“
Friedhelm
verzieht gequält das Gesicht. „Wir müssen es wohl darauf ankommen
lassen“, sagt er resigniert.
Er
fühlt sich schuldig, nicht nur weil er Felix gegenüber ausgerastet
ist. Es ist ihm schon lange bewusst, dass er Fehler gemacht hat. Auch
wenn er immer wieder den Kontakt mit Felix suchte, hatte er es im
Grunde aufgegeben sein Vertrauen zu gewinnen. Dazu kam der berufliche
Ehrgeiz. Um bessere Chancen auf eine Stelle in der Redaktion einer
renommierten Zeitung zu haben, brauchte er Auslandserfahrung. Für
sein Feature über die Freiheitsbewegung in Polen bekam er einen
Preis, der ihn in Journalistenkreisen bekannt machte, so dass weitere
interessante Aufträge in Osteuropa folgten. Wenn er zwischen seinen
Reisen seine Familie besuchte,
musste er mit Felix heftiger Ablehnung und Reginas vorwurfsvollem
Schweigen klarkommen. Es verletzte ihn, dass sein beruflicher Erfolg
in seiner Familie so wenig Anerkennung fand. So verbrachte er mehr
und mehr Zeit in der Redaktion, wenn er in Berlin war und ging erst
nach Hause, wenn Felix längst schlief.
Wenige
Tage nach Felix zehntem Geburtstag forderte Regina ihn auf sich eine
neue Wohnung zu suchen.
VIII
Regina
räumt mechanisch mit routinierten Handgriffen die Küche auf und
macht sich eine Tasse Kaffee. Um Felix noch einmal sehen zu können,
bevor er sich auf den Weg ins Trainingslager machte, war sie über
Mittag nach Hause gekommen. Sie hatte gekocht – Pfannkuchen mit
einer Spinat-Hackfleischfüllung – seit kurzem eines von Felix
Lieblingsgerichten. Er aß mit großem Appetit und sie spürte, dass
er ihre Mühe schätzte.
„Viel
Spaß! Und pass auf dich auf!“ sagte sie zum Abschied, wie immer
hoffend, dass er nicht spürte wie besorgt sie war.
Nun
weiß sie nicht was sie mit dem restlichen Nachmittag und dem Abend
anfangen soll. Während sie sich sonst die Zeit so sorgfältig
einteilt und ihre 'to do'-Liste gewissenhaft abarbeitet, erscheint
ihr jetzt alles sinnlos. Tief aufseufzend zieht sie die Tageszeitung
zu sich heran, schiebt sie aber nach kurzer Zeit wieder von sich. Sie
kann sich auf nichts konzentrieren.
IX
Regina
hat sich im Café Mokkabohne mit Susanne verabredet, weil sie nicht
das ganze Wochenende über allein sein will. Susanne ist eine
Kollegin, mit der sie gut über ihre Arbeit sprechen kann. Ihre
Tochter Lena ist ein Jahr älter als Felix. Nun fühlt sie sich an
das runde Tischchen gefesselt und muss Susanne zuhören, die spürbar
stolz von Lena erzählt. Bei der diesjährigen Theateraufführung des
Marie-Luise-Gymnasiums hatte sie mit großem Erfolg die Hauptrolle in
'Besuch der Alten Dame' gespielt.
Regina
muss sich ganz darauf konzentrieren aufmerksam-freundlich zu lächeln
und mit kurzen Einwürfen zu signalisieren, dass sie zuhört und wie
sehr sie Lena bewundert. Susanne soll nicht merken wie elend sie sich
fühlt.
„Und
wie geht es Felix?“ hört sie Susanne fragen.
„Ganz
gut“, zwingt sie sich zu sagen. „Er ist zwar nicht so aktiv wie
Lena, aber seine Schulleistungen sind ordentlich und er geht seit
kurzem regelmäßig joggen. Du weißt ja, dass er auch gerne
zeichnet.“
„Ja,
ich erinnere mich. Schon als er klein war, war er ein richtiger
Künstler. Ich habe dich immer ein bisschen darum beneidet. Aber dann
hat Lena ihr musikalisches Talent entdeckt. Im Schulorchester spielt
sie jetzt in der ersten Geige. Es ist manchmal gar nicht leicht für
sie mit den Proben fürs Theater und fürs Orchester und dann auch
noch die Schule.“
Susanne
arbeitet nur noch drei Tage in der Woche um die Urlaubskasse
aufzubessern, wie sie leichthin sagt. Ihr Mann hat eine Stelle im
oberen Management eines multinationalen Konzerns. Regina bewundert
die lässige Eleganz ihrer Erscheinung und ihres Auftretens. Ihre
Kleidung wirkt wie maßgeschneidert - fließende Seidengewänder, die
ihre schlanke Taille und ihre langen schlanken Beine umschmiegen.
Alles an ihr und um sie herum erscheint ihr perfekt - das
Familienleben, die Kinder, der berufliche Erfolg ...
„Geht
es dir nicht gut?“ dringt auf einmal Susannes Stimme gedämpft zu
ihr wie aus einer anderen Welt.
„Entschuldige“,
sagt Regina. „Ich musste an eine meiner Patientinnen denken. Ich
habe gerade angefangen, den Fallbericht zu schreiben und komme
irgendwie nicht davon los.“
Sie
beginnt von ihrer Patientin zu erzählen.
X
Friedhelm
sitzt auf seinem Sofa mit schlaff nach vorn hängenden Schultern und
starrt auf die klare bernsteinfarbene Flüssigkeit in seinem
Whiskyglas. Er hat sich eingeschenkt aber keinen Schluck davon
getrunken. Immer wieder atmet er etwas tiefer ein und glaubt dann das
Whiskyaroma wahrzunehmen. Dabei ist er sich sicher, er würde das
Glas nicht anrühren. Wenn er nach dem Einschenken immer nur ein
wenig abwartet, beginnt er die Demütigungen aus der Zeit seiner
Alkoholsucht nachzuerleben. Nichts kann ihn dann dazu bringen einen
Schluck zu nehmen.
In
der ersten Zeit nachdem Regina ihn aus der Wohnung geworfen hatte,
verspürte er geradezu Erleichterung. Er hatte ständig ein
schlechtes Gewissen gehabt – weil er immer so spät nach Hause kam,
weil er viel unterwegs war und weil ihr Unmut darüber immer
unausgesprochen blieb. Im Nachhinein scheint es ihm als hätte es
sich jeder von ihnen in seinem Schmollwinkel bequem eingerichtet.
Also
war die Trennung für ihn doch eine gute Lösung – ohne großen
Streit und ohne zerfleischende Auseinandersetzungen um Geld. Regina
legte großen Wert darauf, dass er Felix regelmäßig besuchte oder
etwas mit ihm unternahm. Der einzige Haken daran war, dass Felix das
Zusammensein mit ihm immer als unangenehm empfand. Mit Papa einen
lustigen Film anschauen oder mit Papa Eis essen gehen war
Pflichtprogramm, wie die Schule. Es war als ob Felix in seiner
Gegenwart nicht er selbst sein konnte, als hätte er nur darauf
gewartet, bis die Zeit abgelaufen war. Aber wenn Friedhelm ehrlich
war, musste er zugeben, dass er genauso empfunden hatte.
Nach
den Nachmittagen mit Felix fühlte sich Friedhelm angespannt und
aufgewühlt. Er brauchte zuerst einmal ein Glas Whisky zur
Entspannung bevor er irgend etwas anderes machen konnte. Zugegeben,
er hatte schon immer gerne Wein getrunken, am liebsten einen
fruchtigen leichten Weißwein, wie in ihren glücklichsten Zeiten,
wenn er mit Regina abends zusammen saß und sie ihn mit ihren hellen
grün-blauen Augen zärtlich anschaute.
Als
aber die Spannungen zwischen Regina und ihm größer wurden, brauchte
er abends etwas Stärkeres, damit seine Gedanken nicht ständig um
seine Probleme kreisten, die ja nicht nur zu Hause auf ihn lauerten.
Auch in der Redaktion hatte er immer wieder Stress – mit der
Deadline für eine Reportage oder mit dem Redigieren des Feuilletons.
Es galt den Ideenreichtum junger aufstrebender Journalisten
einzubinden ohne sich von ihnen in eine Ecke drängen zu lassen. Es
war als müsste er ständig die Position verteidigen, die er sich im
Lauf der Jahre erkämpft hatte. Mit der Zeit genügte ihm ein Whisky
am Abend nicht mehr, dann begann er immer früher am Nachmittag mit
dem ersten Glas.
Einmal
schien es, als könnte er ein neues Leben beginnen, als er Meike,
eine junge Journalistin aus Brandenburg kennen lernte, die ähnlich
dachte wie er. Meike verließ ihn jedoch plötzlich nach einem Jahr.
Nachdem sie sich in einen erfolgreichen Firmengründer aus Potsdam
verliebt hatte, den sie während der Recherche für ein Feature
kennen gelernt hatte, war Friedhelm für sie nur noch der
„Besser-Wessi“.
Bitter
enttäuscht und zutiefst verletzt begann er wieder zur Flasche zu
greifen – und was dann folgte, daran mochte er nicht mehr denken.
Wie
schon so oft lächelte er bei dem Gedanken daran, dass es eigentlich
Reginas fragende Blicke waren, die ihm geholfen hatten, seine Sucht
zu überwinden, obwohl sie sich in dieser Zeit so gut wie nie sahen.
In seinen klareren Momenten sah er sie vor sich wie sie hinter seinen
müden glanzlosen Augen und seiner blass-gelblichen Gesichtshaut nach
dem jungen dynamischen Journalisten suchte, in den sie sich verliebt
hatte und hörte sie fragen, was denn aus ihm geworden sei.
Sie
hatten sich 1989 im Freudentaumel des Mauerfalls kennen gelernt. Er
hatte vor ein paar Wochen sein Volontariat bei der Badischen Zeitung
beendet und war seither auf eigene Kosten in Berlin, um diesen
historischen Moment in der deutschen Geschichte mitzuerleben und
darüber zu schreiben. Zusammen mit einem Medizinstudenten, der Matze
hieß und Hobbyfotograf war, beobachtete er das Leben im Grenzgebiet
zwischen Ost- und Westberlin. Sie wollten das Zerbröckeln der alten
Welt und die Atmosphäre des Aufbruchs in eine neue Zeit einfangen,
in Bildern und in Worten. Sie waren fasziniert von der Idee eines
neuen Deutschlands, das weder sozialistisch noch kapitalistisch war,
eines Deutschlands, in dem das Wohl der Menschen an erster Stelle
stand.
Eines
Abends hatten sie sich in einer Kneipe in Berlin Mitte zu einigen von
Matzes Kommilitonen an den Tisch gesetzt. Regina fiel ihm auf, weil
sie in der ausgelassenen Stimmung einen kühlen Kopf zu behalten
schien. Im Unterschied zu den anderen beiden Studentinnen flirtete
sie nicht mit ihm. Er spürte aber, dass sie ihn aufmerksam
beobachtete.
Ein
paar Tage später redeten sie auf Matzes Geburtstagsparty zum ersten
Mal miteinander. Sie hatte gerade begonnen sich auf ihr zweites
Staatsexamen vorzubereiten.
„Gar
nicht so einfach, sich auf die Dysfunktionen von Leber und Nieren zu
konzentrieren, wenn um dich herum eine neue Welt entsteht“, sagte
sie lachend. Dafür nahm er sie in den Arm und küsste sie.
Aufgeschreckt durch die schrillen Pfiffe, die um sie herum ertönten,
sahen sie einander lächelnd an und küssten sich dann noch einmal
lange und zärtlich.
Von
da an waren sie viel zusammen in Berlin unterwegs, wann immer Regina
Zeit hatte.
In
ihrer Gegenwart fühlte er sich im Gleichgewicht, weil ihre eigene
innere Ruhe sich auf ihn übertrug. Er spürte, dass sie einen festen
Platz in der Welt hatte und ein festes Ziel vor Augen, von dem sie
sich nicht abbringen lassen würde. Er dagegen fühlte sich heimatlos
und immer auf der Suche.
Im
Unterschied zu ihm sah Regina keinen Grund für Kritik am
marktwirtschaftlichen System der Bundesrepublik Deutschland. Es war
ihm bald klar, dass sie es gar nicht in Frage stellen konnte, weil
sie und ihre Familie viel mehr ein Teil dieses Systems waren als er.
Regina gehörte zu den Studenten, die selbstverständlich studierten,
weil ihre Eltern Akademiker waren, die das von ihr erwarteten und ihr
das Studium finanzierten. Ihr Vater war auch Arzt, ihre Mutter
Lehrerin und ihre Eltern waren ihr immer Vorbilder und Wegweiser
gewesen. Das Wunderbare war, dass sie sich deswegen nicht unter Druck
fühlte. Natürlich war sie auch manchmal frustriert, aber sie
absolvierte Schritt für Schritt dieser langen Ausbildung ohne sie
auch nur einmal in Frage zu stellen, weil der Arztberuf die in ihre
Wiege gelegte Bestimmung war.
Friedhelm
dagegen war der erste Universitätsstudent in seiner Familie. Seine
Eltern waren 1931 geboren und erhielten während des Weltkriegs keine
gute Schulbildung. Nach dem Krieg musste sein Vater – er war gerade
14 Jahre alt – in einem Kohlebergwerk arbeiten um sich, seine
Mutter und seine Geschwister zu ernähren. Friedhelms Großvater war
bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen.
Durch
Abendschule und Fortbildungen konnte Friedhelms Vater zwar zum
Abteilungsleiter in einer Uhrenfabrik aufsteigen, aber er verstand
sich sein Leben lang als Kind der Arbeiterklasse und empfand die
Verteilung von Chancen und Gütern in der freien Marktwirtschaft als
ungerecht.
„Die
Reichen werden immer reicher und die Armen ärmer“, sagte er
manchmal bitter.
Als
Schüler hörte Friedhelm gerne zu, wenn sein Vater von seinen
Erlebnissen und Erfahrungen erzählte, und er konnte sich gut mit
seiner politischen Einstellung identifizieren. Er wäre gerne wie
Robin Hood gewesen, der von den Reichen nahm und ihren Überfluss
unter die Armen verteilte.
Während
seines Studiums – er studierte Geschichte und Politikwissenschaft
an der Universität Freiburg – wurde ihm klar, dass es der
freiheitlich-demokratische Staat war, der es ihm, dem Arbeiterkind,
ermöglichte zu studieren was ihn interessierte und ihm die
Voraussetzungen dafür gab, einen anspruchsvollen und gut bezahlten
Job zu bekommen. Gleichzeitig entging es ihm jedoch nicht, dass es
große Unterschiede zwischen den Studenten gab. Es gab diejenigen,
die in einer kleinen Wohnung mit eigener Küche und eigenem Bad im
Stadtzentrum lebten, und diejenigen, die in einem Dachkämmerchen
hausten, in dem man nur an einer Stelle aufrecht stehen und sich an
einem kleinen Waschbecken waschen konnte.
Er
bewohnte als Student das kleinste Zimmer in einer WG. Dank Bafög,
seiner Sparsamkeit und einiger Ferienjobs hatte er keine echten
Geldsorgen.
Seine
Eltern hätten es lieber gesehen, wenn er eine handwerkliche Lehre
gemacht oder Maschinenbau studiert hätte. Dennoch versuchten sie
nicht ihn von seinem Ziel abzubringen Journalist zu werden, was er
ihnen heute noch hoch anrechnet. Sein Vater verstand seinen glühenden
Wunsch, sich für die Benachteiligten in der Gesellschaft und in der
Welt einzusetzen, die Missstände aufzudecken und Veränderungen
einzufordern. So lange er zurückdenken kann, hatten sie politisch
diskutiert. Seine Fähigkeit zu argumentieren hatte er mit seinem
Vater beim Mittag- und beim Abendessen trainiert.
Immer
wieder hatte man ihm gesagt, er habe Talent zum Schreiben, der
Lehrer, der die Schülerzeitung betreute, die Professoren, die seine
Hausarbeiten lasen, die Redakteure der Badischen Zeitung, die ihn im
Volontariat ausbildeten. Aber er musste trotzdem hart arbeiten, bis
er seine erste feste Anstellung bekam. Später musste er feststellen,
dass auch harte Arbeit und Talent manchmal nicht ausreichten. Nicht
nur einmal war er aufgrund der Intrige eines Kollegen oder einer
Kollegin übergangen worden, bevor er erkannte, dass er keinem
wirklich trauen konnte und dass er seine Stellung aktiv sichern und
verteidigen musste.
Tief
aufseufzend steht er auf, bringt das Whiskyglas in die Küche und
leert den Inhalt in die Spüle.
XI
Regina
lässt sich in ihren Lesesessel im Wohnzimmer sinken und legt die
Beine hoch. Sie ist glücklich, dass Felix wieder zu Hause ist und
erschöpft nach der Anspannung, die sie das ganze Wochenende über
spürte.
Aus
dem wenigen, das Felix ihr vom Trainingslager erzählte, schließt
sie, dass er stolz darauf ist durchgehalten zu haben. Vom vielen
Sport hat er Muskelkater und bei einem Geländespiel zog er
sich eine Schürfwunde am Knie zu. Er verstand sich gut mit einem
Jungen aus seiner Schule, der ein Jahr älter ist. Als sie ankamen,
half er Felix sich zurechtzufinden. Er heißt Carlo, sein Hobby ist
Kochen und er spielt ausgezeichnet Fußball. Felix bewundert vor
allem seine Fähigkeit im richtigen Moment eine passende Bemerkung zu
machen, über die alle um ihn herum lachen.
Natürlich
würde Felix nichts von nationalsozialistischen Ritualen oder
paramilitärischem Drill erzählen. Das erwartet sie auch gar nicht.
Wird sie es ihm ansehen, wenn er in Schwierigkeiten ist?
Nachdem
sie zusammen gegessen hatten - sie hatte Rinderrouladen mit
Kartoffeln und Bohnen gekocht – half Felix ihr die Küche
aufzuräumen und zog sich dann in sein Zimmer zurück. Er müsse noch
etwas für die Schule vorbereiten und würde abends zu Hause bleiben.
Auch
Regina hatte während des Abendessens interessante Neuigkeiten für
Felix. Ihre Freundin Dina hatte eine E-Mail geschrieben, in der sie
ankündigte, dass sie und ihre Familie in den Sommerferien wieder
nach Berlin ziehen würden. Dinas Sohn Henni war Felix bester Freund
bis vor etwa 5 Jahren als Hennis Vater eine Professur an einer
Universität in den USA annahm. Die Familie wohnte im ersten Stock
des Nachbarhauses, und Henni war nur 2 Monate früher als Felix
geboren.
Dina
ist Inderin. Regina mag sie sehr und bewundert sie auch. Sie strahlt
die Gelassenheit und Würde einer Frau aus, die überall in der Welt
zurecht kommt. So weit weg von ihrem Heimatland, von ihren Eltern und
Geschwistern, hatte sie für sich und ihre Familie ein Zuhause
geschaffen, und es war für sie natürlich, dass es nur auf Zeit sein
würde.
Sie
hatten sich auf dem Spielplatz im Köllnischen Park kennen gelernt
und besuchten einander danach oft mit ihren Kindern. Da Henni ein
temperamentvoller bewegungsfreudiger Junge war, zog sich Felix
anfangs immer zu Regina zurück und schmiegte sich an sie. Es dauerte
ein paar Wochen bis er sich an Henni gewöhnt hatte. Wenn Regina
einen Termin hatte, zu dem sie Felix nicht mitnehmen konnte, durfte
er bei Dina und Henni sein und umgekehrt war Henni oft bei ihnen.
Während der gesamten Kindergarten- und Grundschulzeit waren Henni
und Felix dann beste Freunde. Felix litt sehr darunter, dass Henni
wegzog. Regina hoffte zwar, dass sie über E-Mail Kontakt halten
würden, aber keiner von beiden schrieb gern.
Wie
es wohl sein wird, wenn sie sich wiedersehen?
XII
„...und
wie ist es Felix seit letztem Wochenende ergangen?“ fragt
Friedhelm.
Sie
sitzen an einem Fensterplatz im Café Sahnehäubchen, um zu beraten,
wie sie weiter vorgehen könnten. „Ich habe nichts
Außergewöhnliches beobachtet, außer dass er jetzt öfter joggen
geht. Darauf ist er auch ganz stolz“, erwidert Regina. „Am
Dienstag und am Donnerstag hat er sich abends mit seinen Freunden von
der 'Freien Jugend' zum Training getroffen, wie er es nennt. Gestern
Abend ist er auch mit Freunden unterwegs gewesen.“
„Weißt
du schon, wann das nächste Trainingslager sein wird?“ fragt
Friedhelm.
„Felix
hat noch nichts gesagt.“ antwortet Regina. „Du weißt ja wie er
jetzt ist. Er wählt sorgfältig aus, was er mir erzählt. Trotzdem
habe ich das Gefühl, dass es ihm sehr wichtig ist mit mir gut
auszukommen. Er fragt immer wann ich nach Hause komme, wir essen
gemeinsam zu Abend und er hat angeboten für uns einzukaufen. Also
stellen wir alle zwei bis drei Tage eine Einkaufsliste zusammen. Er
nimmt mir damit wirklich viel Arbeit ab, und ich zeige ihm auch wie
sehr ich mich darüber freue.“
Sie
legt ihre rechte Hand beruhigend auf seine linke, die schlaff neben
seiner Kaffeetasse liegt und schaut ihn prüfend an. Er wirkt sehr
angespannt. Sein Gesicht ist hagerer geworden aber anders als während
seiner Alkoholsucht. Sie ist sich sicher, dass er nicht wieder
angefangen hat zu trinken.
„Ich
kann mir vorstellen, dass du dich quälst, weil er gar nichts mehr
mit dir zu tun haben möchte. Aber du darfst die Hoffnung nicht
aufgeben. Gönn dir ab und zu ein Stück Kuchen“, fügt sie
lächelnd hinzu.
XIII
Friedhelm
geht nicht sofort nach Hause. Die kalte Luft des Februarnachmittags
tut ihm gut und während er durch die vertrauten Straßen geht, kann
er seinen Gedanken freien Lauf lassen. Inspiriert durch die
historischen Fassaden und Plätze hat er immer wieder
Lösungsmöglichkeiten für schwierige Probleme gefunden. Aber was
Felix betrifft, scheint es keinen Weg zu geben ihn zum Ausstieg aus
der 'Freien Jugend' zu bewegen. Wieder fragt er sich, wie es dazu
kommen konnte, dass Felix sich einer rechtsradikalen Organisation
anschloss. Gut, er sagte, sie würden ihn verteidigen, also wird er
wohl von seinen Mitschülern aufgezogen oder vielleicht sogar
gemobbt? Irgendwelche fiesen Charaktere, die sich die sensibleren und
ruhigeren Schüler vornehmen, gibt es ja in jeder Klasse. Regina muss
unbedingt herausfinden, was dahinter steckt.
Aber
warum geriet Felix ausgerechnet in die Fänge der Nazis? Sowohl
Regina als auch er verabscheuen ihre rassistische Ideologie und ihr
primitiv-destruktives Auftreten.
Zugegeben,
auch er war als Jugendlicher systemkritisch und sympathisierte mit
radikalen Ideen, weil er glaubte, dass sie die Welt zum Besseren hin
verändern würden. „Deutschland den Deutschen“, „Ausländer
raus“, dagegen, kann auf keinen Fall ein Fundament für eine
funktionierende Staats- und Gesellschaftsordnung sein. Das ist nur
unmenschlich und unwürdig, insbesondere angesichts der Deportation
und Vernichtung so vieler Menschen im 'Dritten Reich'.
Friedhelm
glaubt nicht, dass Felix wirklich ein Rassist ist. Wahrscheinlich ist
es das Versprechen von Kameradschaft, von Sicherheit in einer
verschworenen Gemeinschaft, das ihn so sehr anzieht.
Vielleicht
hätten Regina und er dies verhindern können, wenn sie sich selbst
mehr gesellschaftlich engagiert hätten. Als Felix in die Grundschule
ging, versuchten sie zwar ihn bei einem Sportverein anzumelden, er
fühlte sich dort aber nicht wirklich wohl und weigerte sich nach
einiger Zeit ins Training zu gehen. Inzwischen ist sich Friedhelm
bewusst – eher theoretisch als durch Erfahrung – dass die
Erfolgschancen größer gewesen wären, wenn sie als Familie diese
Dinge gemeinsam gemacht hätten – im Verein, in der
Kirchengemeinde aktiv sein, Würstchen grillen und Kuchen verkaufen
beim Fußballturnier oder dem jährlichen Gemeindefest. Als er sich
selbst in dieser Rolle vorstellt, muss er laut lachen. Er ist wohl
eher ein Einzelgänger.
XIV
Felix
ist auf dem Weg vom Training nach Hause. Gerade hat er sich von Carlo
verabschiedet, der ein Stück weit denselben Weg hat. Für Felix ist
ihr gemeinsamer Heimweg immer ein Höhepunkt des Tages. Er genießt
es mit Carlo die Beobachtungen auszutauschen, die sie während des
Trainings machten, und die Leistungen und das Verhalten ihrer
Kameraden zu beurteilen. Heute war Felix aufgefallen, dass Carlo
mehrmals kritisiert wurde, obwohl er alles richtig zu machen schien,
aber Carlo scheint es nichts auszumachen. Felix bewundert ihn dafür,
dass er alles so leicht nimmt und dass ihm immer eine schlagfertige
Bemerkung einfällt, mit der er die Lacher auf seine Seite zieht.
Der
Klingelton seines Handys reißt Felix aus seinen Gedanken. Er erkennt
Carlos Nummer und hört gleich nach dem Einschalten Carlo voller
Angst leise sagen: „Ich werde verfolgt, bitte hilf mir.“
„Wo
bist du?“ fragt Felix sofort zurück, aber er hört nur noch einen
Aufschrei und dumpfe Stöße. Dann ist die Verbindung unterbrochen.
Ohne nachzudenken rennt Felix zurück bis zur Straßenecke, wo sie
sich trennten und weiter in die Richtung, in die Carlo ging. Aufgrund
der parkenden Autos kann er erst auf halber Strecke bis zum Ende der
Straße sehen wo zwei dunkle Gestalten auf etwas am Boden eintreten
und -schlagen. „Carlo, ich komme!“ schreit er so laut er kann,
wobei die dunklen Gestalten sofort innehalten und um die nächste
Ecke verschwinden. Felix spürt wie sich sein Magen zusammenkrampft,
während er sich noch immer rennend dem Tatort nähert. Auf den
letzten Metern muss er sich geradezu zwingen zu dem am Boden
liegenden Bündel hinzugehen. Carlo liegt zusammengekrümmt auf der
Seite. Sein Gesicht ist angeschwollen und aus seiner Nase strömt
Blut. Er röchelt leise. Zum Glück atmet er noch.
„Carlo“,
sagt Felix heiser. „Ich bins, Felix. Ich bin jetzt bei dir und
passe auf dich auf. Gleich kommt Hilfe.“
Er
ertastet sein Handy in der Gesäßtasche, wählt mechanisch 112 und
beantwortet noch immer außer Atem die Fragen der Notrufzentrale.
Dann
wendet er sich wieder Carlo zu. Er traut sich nicht ihn anzufassen,
überwindet sich aber und verschiebt seinen linken Arm und sein Knie
etwas um ihn ganz in die stabile Seitenlage zu bringen. Dabei spricht
er die ganze Zeit mit ihm in der Hoffnung Carlo würde dann nicht
sterben.
Erst
jetzt beginnt Felix wie von weit her die Stimmen der Menschen zu
registrieren, die inzwischen einen Ring um ihn und Carlo gebildet
haben.
„Was
ist passiert? Kann ich helfen?“ fragt eine junge Frau, die gerade
hinzu gekommen ist, aufgeregt.“
Felix
Mund ist so trocken, dass er nur ein unverständliches Krächzen
hervorstößt. Da endlich hört er die Sirenen von Krankenwagen und
Polizei.
XV
Regina
steht vor Felix Schreibtisch, das Handy griffbereit neben sich und
schaut aus dem Fenster. Sie hat kein Licht gemacht um die Straße
beobachten zu können. Jedes Mal, wenn sie Schritte hört und jemand
um die Ecke biegt, glüht die Hoffnung in ihr auf, dass es Felix ist.
Sie lässt sich verschiedene Szenarien durch den Kopf gehen, die zu
der Verspätung führen konnten.
„Wie
auch immer“, denkt sie verärgert. „Er hätte auf jeden Fall
anrufen müssen.“
Sie
hatte sich schon ins Bett gelegt, war aber wieder aufgestanden als
Felix nicht zur vereinbarten Zeit, um 22 Uhr, die Wohnungstür
aufschloss. Nun hat sie schon länger als eine halbe Stunde gewartet.
Soll sie die Polizei anrufen?
Da
klingelt ihr Handy, aber sie sieht sofort, dass es nicht Felix ist.
Sie fummelt nervös nach dem Einschaltknopf und haucht „Ja?“
„Frau
Dr. Rebmann?“ erklingt eine Männerstimme.
„Ja,
das bin ich“, sagt sie mechanisch..
„Wagner,
Kriminalpolizei“, klingt es an ihr Ohr, während ihr Herz einen
Schlag aussetzt. “Ihr Sohn Felix ist in Sicherheit. Bis auf einen
leichten Schock ist er unverletzt. Er hat einem Freund geholfen, der
zusammengeschlagen wurde. Er wurde mit ihm in die Charité
eingeliefert. Wir bringen ihn gleich zu Ihnen nach Hause.“
Regina
schaltet das Handy aus und legt ihren Kopf auf die Arme.
„Zum
Glück ist ihm nichts passiert“, denkt sie.
XVI
Sie
sagt früh morgens gleich alle ihre Termine für den Tag ab. Dann
besorgt sie Brötchen für ein leckeres Frühstück und wartet bis
Felix aufsteht. Jetzt kommt er etwas unsicher manövrierend in die
Küche und setzt sich ihr gegenüber an den Küchentisch.
„Hallo
Mama“, sagt er gequält und kneift die Augen etwas zusammen.
„Hallo
Felix“, sagt sie liebevoll. „Du brauchst jetzt nicht gleich zu
erzählen. Lass dir so viel Zeit wie du brauchst.“
„Aber
es ist wichtig“, bricht es aus ihm hervor. „Carlo hat mir gesagt,
dass er Siggi von der 'Freien Jugend' erkannt hat. Er war einer der
Schläger. Das muss die Polizei wissen.“ Er stöhnt tief auf und
stützt seinen Kopf mit den gespreizten Fingern beider Hände. „Wie
Friedhelm“, fährt es Regina durch den Kopf.
„Ich
ruf gleich an“, sagt sie.
Wenig
später sitzen sie mit Kommissar Wagner und einer jüngeren Kollegin,
die das Protokoll schreibt, um den Wohnzimmertisch. Felix fällt es
sichtlich schwer Worte zu finden. Über Siggi kann er nur sagen, dass
er groß ist und muskulös. Seine blonden Haare sind sehr kurz
geschoren und die blauen Augen leuchten auffällig aus dem braun
gebrannten Gesicht hervor. Felix schätzt ihn auf etwa 30 Jahre. Er
ist einer der Leiter ihrer Gruppe der 'Freien Jugend'.
„Gut
möglich, dass sein richtiger Name gar nicht Siggi ist“, murmelt
Felix beschämt.
„Da
könntest du recht haben.“ Kommissar Wagner lächelt ermutigend.
„Ich
kann ihn für Sie zeichnen“, bietet Felix an.
Kommissar
Wagner beobachtet staunend wie sich aus Felix geübten
Bleistiftstrichen in kürzester Zeit ein lebendiges Porträt
entwickelt.
„Den
kenne ich“, meint er dann trocken. „Danke Felix, du hast uns sehr
geholfen. Weißt du denn, warum sie Carlo zusammengeschlagen haben?“
Felix
zögert. „Carlo ist anders“, sagt er dann. „Er hat nicht alles
so ernst genommen wie ich und die anderen. Ich mag ihn, weil er immer
guter Laune ist und uns zum Lachen gebracht hat und dachte die
anderen mögen ihn auch. Vielleicht hat er alles durchschaut. Aber
warum ist er dann nicht weggeblieben?“
Kommissar
Wagner steht seufzend auf und verabschiedet sich von Regina und
Felix. Regina bringt die beiden Polizisten zur Wohnungstür.
XVII
Friedhelm
steht vor der Wohnungstür im dritten Stock und drückt den
Klingelknopf. Nervös öffnet er die obersten Knöpfe seines Mantels
als sich die Tür öffnet und Regina ihn lächelnd hereinbittet.
Er
folgt ihr in die Küche, und begrüßt Felix, der müde und
mitgenommen am Tisch sitzt.
„Ich
bin so froh, dass du heil davongekommen bist“, sagt er mit
Erleichterung in der Stimme.
Er
setzt sich Felix gegenüber und freut sich als Regina ihm eine Tasse
Kaffee anbietet.
„Wie
geht es dir denn?“ fragt er und schaut Felix dabei besorgt an.
„Ich
muss die ganze Zeit an Carlo denken“, sagt Felix in die Stille
hinein. „ … wie sie auf ihn eintraten …. sein geschwollenes
Gesicht, das Blut … und wie er zusammengekrümmt auf dem Boden
lag.“
„Carlo
ist noch auf der Intensivstation, aber er ist außer Lebensgefahr“,
ergänzt Regina. „Er hat schwere Kopfverletzungen und Prellungen am
ganzen Körper. Es ist ...“ Sie stockt, verzieht das Gesicht wie in
Schmerzen und fährt dann gequält fort: „... noch nicht sicher, ob
er wieder ganz gesund wird. Auf jeden Fall wird er sehr lange an dem
Trauma leiden, das der Überfall verursacht hat.“
Wie
vereinbart bleibt Friedhelm nicht lange, damit Felix sich ausruhen
kann. Als er sich verabschiedet, erwidert Felix seinen liebevollen
Blick einen Moment lang und sagt: „Es tut mir Leid, Papa.“
„Ist
in Ordnung“, antwortet Friedhelm lächelnd.
Während
Regina Friedhelm zur Wohnungstür begleitet, sagt sie noch leise:
„Gestern Abend hab ich den Restmüll zur großen Tonne gebracht.
Rat mal was darin lag.“ Sie macht eine bedeutungsvolle Pause,
während der sie Friedhelms verständnislosen Gesichtsausdruck
genießt. „ … Felix schwarzer Kapuzenpulli“, sagt sie dann
strahlend vor Glück.
XVIII
Regina
geht noch einmal durch die Räume ihrer Praxis um ganz sicher zu
sein, dass sie alle elektrischen Geräte ausgesteckt, alle Fenster
geschlossen und die Rolläden halb heruntergelassen hat. Ihre Tasche
mit dem Material, das sie sich während ihres Urlaubs ansehen will,
steht schon an der Tür. Nun holt sie noch den Restmüllbeutel aus
der kleinen Küche, wirft einen letzten prüfenden Blick rundum und
steigt dann die Treppe hinunter auf die Straße.
Morgen
wird sie nach Hamburg zu ihren Eltern fahren, wo Felix, Carlo und
Henni bereits seit einer Woche Ferien machen. Sie freut sich schon
lange darauf. Felix erzählte am Telefon, dass Carlo vom Hafen
fasziniert ist und dass sie deshalb schon mehrmals dort waren. Bei
einer Hafenrundfahrt bestaunten sie die riesigen Containerschiffe,
die be- oder entladen wurden. Einmal konnten sie beobachten wie ein
Kreuzfahrtschiff in den Hafen einfuhr. Ein besonderes Erlebnis war
auch der Traditionsschiffhafen. Carlo träumt nun davon einmal auf
einem der historischen Segelschiffe mitzusegeln, die dort vertäut
liegen.
Regina
ist froh darüber, denn Carlo braucht Träume, um nicht von seinen
schrecklichen Erinnerungen zermürbt zu werden. Körperlich hat er
sich ganz gut erholt, aber er muss sich noch schonen. Sobald er sich
anstrengt, bekommt er Kopfschmerzen. Laut Felix schläft er nachts
unruhig und wacht manchmal mit einem Schrei von einem Albtraum auf.
Carlo
hatte sich der 'Freien Jugend' angeschlossen, weil er etwas gegen die
Nazis tun wollte. „Wie mein Opa und mein Uropa“, erzählte er
einmal mit einem gequälten Lächeln als Felix und Regina ihn im
Krankenhaus besuchten. „Sie haben sich der Resistenza angeschlossen
und gegen die Faschisten gekämpft.“ Als Felix beitrat, wollte
Carlo eigentlich schon aussteigen, er hatte aber große Angst vor der
Rache der 'Kameraden'.
Ende
Juni zogen Dina und ihre Familie wieder in Berlin ein. Seither hat
sich Henni mit Felix zusammen um Carlo gekümmert. Die drei planen
jetzt schon eine gemeinsame Reise durch die USA für die Zeit nach
ihrem Abitur.
Auf
eigenen Wunsch verbringt Felix nun jede Woche ein paar Stunden mit
Friedhelm. Regina weiß, dass sie lange Spaziergänge machen,
besonders im ehemaligen Grenzgebiet und dass Friedhelm Felix vom
geteilten Berlin und der Zeit des Mauerfalls erzählt, als sie sich
kennen lernten. Ende Juli, in der Woche bevor die Schule wieder
beginnt, wird Friedhelm mit Felix für ein paar Tage nach Danzig
fahren.
Regina
drückt die Haustür auf und steigt die drei Stockwerke zu ihrer
Wohnung hinauf. Ein wenig außer Atem kramt sie in ihrer Handtasche
nach dem Schlüsselbund und öffnet die Wohnungstür. Wie immer wenn
Felix ein paar Tage nicht zu Hause ist, muss sie einen Moment lang
gegen die Leere ankämpfen, die sie umfängt. Sie spürt aber sofort
wie lächerlich das jetzt ist, denn sie hat allen Grund sich
glücklich zu fühlen. Felix hat einen Vater, gute Freunde und Pläne
für die Zukunft. Er ist außer Gefahr.
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