Hälfte des Lebens
Mit
gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See,
Ihr holden Schwäne,
Und trunken von Küssen
Tunkt ihr das Haupt
Ins heilignüchterne Wasser.
Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See,
Ihr holden Schwäne,
Und trunken von Küssen
Tunkt ihr das Haupt
Ins heilignüchterne Wasser.
Weh
mir, wo nehm ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein,
Und Schatten der Erde ?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein,
Und Schatten der Erde ?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.
Friedrich Hölderlin (1804)
Schönheit und Fruchtbarkeit der Natur, die Überfülle eines sonnigen
Spätsommertags sind der Gegenstand der ersten Strophe. Sie findet im
Aufeinander bezogen sein von Land, Wasser und Lebewesen einen starken Ausdruck.
Der Gedanke an den Winter führt jedoch zu einem plötzlichen Stimmungsumschwung.
Das Bild einer unwirtlichen Landschaft steigt im Bewusstsein des Sprechers auf.
Sie ist ohne Leben und ohne Schönheit, durchzogen von kalten, abweisenden
Mauern. Vor Angst und Grauen entfährt ihm ein Wehschrei.
Der Titel ‚Hälfte des Lebens‘ deutet an, dass die im Gedicht evozierten
Bilder die menschliche Erfahrung repräsentieren.[1] Für
Leser des 21. Jahrhunderts drängt sich zuerst die Interpretation als
Lebensalter auf. Mitten im Leben macht sich die Angst vor dem Älterwerden als
ein ungewisses und unabwendbares Schicksal bemerkbar. Am Ende steht der Tod.
Als Hälften des Lebens können sich aber auch gegensätzliche
Gemütsverfassungen gegenüberstehen, eine Zeit der Freude im Wechsel mit einer
depressiven Stimmung. Der Umschwung kann, muss aber nicht durch einen konkreten
Anlass ausgelöst werden. So kann der Künstler auch in guten Zeiten von der
Angst vor dem Versiegen der Kreativität gepackt werden.
Die Folge der Jahreszeiten von Spätsommer zu Winter legt nahe, dass nach
dem Winter wieder ein Frühling anbricht.[2] Am Ende
des Gedichts ist jedoch kein Hinweis auf einen solchen zu erkennen. Vielmehr
klingt das Grauen der dargestellten Szene noch nach. Wenn man die Horrorvision
des zweiten Bildes einmal vor Augen hatte, ist es schwer, wieder unbefangen die
Fülle des Lebens zu genießen.
Die Gleichzeitigkeit von Fülle und Armut, von Wohlergehen und Schrecken hat
die Geschichte der Menschheit immer begleitet, und sie prägt auch noch unsere
Gegenwart des 21. Jahrhundert. Die westlichen liberalen Demokratien heute
erscheinen für Angehörige der Mittelklasse wie ein Paradies. Sie leben in
Freiheit und in relativem Wohlstand, ihre Rechte werden geschützt, und es gibt
eine soziale Grundsicherung, aber dieser Zustand wird nicht zuletzt durch
Ausbeutung aufrechterhalten, Ausbeutung der Menschen im eigenen Land und in den
Billiglohnländern Asiens und Afrikas, aber auch der Tiere in Massentierhaltung
und der Natur überall auf der Welt. Immer wieder werden wir Konsumenten mit
Bildern des daraus resultierenden Elends konfrontiert, und dennoch können wir
sie scheinbar in unserem vollgepackten Alltag ausschalten. Ähnlich geht es uns
mit den Folgen des Klimawandels, der ja hauptsächlich durch die
Wirtschaftsweise der Industrienationen verursacht wurde. Wassermangel, Dürre,
Flutkatastrophen bedrohen die Existenz vieler Menschen gerade in ärmeren
Nationen. Wir leben in einem Paradies der Illusionen.
Besonders im Herbst 2018 mit seinen voll beladenen Obstbäumen in einer
ununterbrochenen Folge warmer Sonnentage hat mich Hölderlins Gedicht begleitet.
Auf meinen Spaziergängen durch die Streuobstwiesen fühlte ich mich wie im
Paradies. Und dennoch waren hinter der herzerwärmenden Schönheit Abgründe zu
erahnen.
So angenehm wie die warme Sonne im Oktober war, weckte sie doch auch die
Erinnerung an die Hitzewelle im Sommer, die braunen Felder im Rheintal und im
Nordosten Deutschlands, die schlechte Ernte bei Getreide und Gemüse. Noch im
Herbst fehlte der Regen in der Natur. Die Jahreszeit erinnerte mich auch an das
vorige Jahr, als die Bäume im Spätsommer keine Früchte trugen, da die Blüten
durch eine späte Frostperiode im Frühjahr 2017 zerstört worden waren. Es war
ein unheimlicher und beängstigender Anblick. Angesichts dieser Bilder, die
erfahrbar machen, dass die Ursache nicht eine einmalige, wetterbedingte
Naturkatastrophe, sondern der fortschreitende Klimawandel ist, scheint eine
unwirtlichere Realität auch für uns Deutsche und Westeuropäer unheimlich im
Hintergrund auf.
Und auch gesellschaftlich ist der Winter zu spüren. Hass und Hetze haben
sich lautstark einen Platz im öffentlichen Raum erobert, aber sie finden auch
einen fruchtbaren Boden in sozialer Ungleichheit, prekären Arbeitsverhältnissen
und überhöhten Mietpreisen. Dies hat zu einer Entfremdung von der Mitte der
Gesellschaft geführt, deren Folgen noch nicht absehbar sind.
In den wohlhabenderen Schichten unserer westlichen Gesellschaften erscheint,
wie in Hölderlins Gedicht, die Fülle des Lebens als Wirklichkeit und das
Schreckensszenario als das, was auch eintreten kann.
[1] Die folgenden Überlegungen sind nicht das Ergebnis
literaturwissenschaftlicher Forschung, sondern haben sich aus dem Kontext
meiner Lebenserfahrung ergeben. Eine ausgezeichnete Interpretation des Gedichts
mit Hilfe von Sprachanalysen und mit Bezug auf Hölderlins Denken findet sich in
‘Hälfte des Lebens. Wortgeschichtliche
Erläuterungen zu Hölderlins Gedicht‘ von Ulrich Knoop auf www.ulrich-knoop.com/hölderlin/hälfte-des-lebens/,
1999-2007.
[2] In Hölderlins Denken ist gerade der Winter die Zeit für
dichterisches Schaffen (Knoop, 1999 – 2007).
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