Sonntag, 2. September 2018

Gedicht für September 2018: 'Hälfte des Lebens' von Friedrich Hölderlin (update 2.8.20))





                                  

Hälfte des Lebens


Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See,
Ihr holden Schwäne,
Und trunken von Küssen
Tunkt ihr das Haupt
Ins heilignüchterne Wasser.


Weh mir, wo nehm ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein,
Und Schatten der Erde ?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.


Friedrich Hölderlin (1804)




Schönheit und Fruchtbarkeit der Natur, die Überfülle eines sonnigen Spätsommertags sind der Gegenstand der ersten Strophe. Sie findet im Aufeinander bezogen sein von Land, Wasser und Lebewesen einen starken Ausdruck. Der Gedanke an den Winter führt jedoch zu einem plötzlichen Stimmungsumschwung. Das Bild einer unwirtlichen Landschaft steigt im Bewusstsein des Sprechers auf. Sie ist ohne Leben und ohne Schönheit, durchzogen von kalten, abweisenden Mauern. Vor Angst und Grauen entfährt ihm ein Wehschrei.
Der Titel ‚Hälfte des Lebens‘ deutet an, dass die im Gedicht evozierten Bilder die menschliche Erfahrung repräsentieren.[1] Für Leser des 21. Jahrhunderts drängt sich zuerst die Interpretation als Lebensalter auf. Mitten im Leben macht sich die Angst vor dem Älterwerden als ein ungewisses und unabwendbares Schicksal bemerkbar. Am Ende steht der Tod.
Als Hälften des Lebens können sich aber auch gegensätzliche Gemütsverfassungen gegenüberstehen, eine Zeit der Freude im Wechsel mit einer depressiven Stimmung. Der Umschwung kann, muss aber nicht durch einen konkreten Anlass ausgelöst werden. So kann der Künstler auch in guten Zeiten von der Angst vor dem Versiegen der Kreativität gepackt werden.
Die Folge der Jahreszeiten von Spätsommer zu Winter legt nahe, dass nach dem Winter wieder ein Frühling anbricht.[2] Am Ende des Gedichts ist jedoch kein Hinweis auf einen solchen zu erkennen. Vielmehr klingt das Grauen der dargestellten Szene noch nach. Wenn man die Horrorvision des zweiten Bildes einmal vor Augen hatte, ist es schwer, wieder unbefangen die Fülle des Lebens zu genießen.
Die Gleichzeitigkeit von Fülle und Armut, von Wohlergehen und Schrecken hat die Geschichte der Menschheit immer begleitet, und sie prägt auch noch unsere Gegenwart des 21. Jahrhundert. Die westlichen liberalen Demokratien heute erscheinen für Angehörige der Mittelklasse wie ein Paradies. Sie leben in Freiheit und in relativem Wohlstand, ihre Rechte werden geschützt, und es gibt eine soziale Grundsicherung, aber dieser Zustand wird nicht zuletzt durch Ausbeutung aufrechterhalten, Ausbeutung der Menschen im eigenen Land und in den Billiglohnländern Asiens und Afrikas, aber auch der Tiere in Massentierhaltung und der Natur überall auf der Welt. Immer wieder werden wir Konsumenten mit Bildern des daraus resultierenden Elends konfrontiert, und dennoch können wir sie scheinbar in unserem vollgepackten Alltag ausschalten. Ähnlich geht es uns mit den Folgen des Klimawandels, der ja hauptsächlich durch die Wirtschaftsweise der Industrienationen verursacht wurde. Wassermangel, Dürre, Flutkatastrophen bedrohen die Existenz vieler Menschen gerade in ärmeren Nationen. Wir leben in einem Paradies der Illusionen.
Besonders im Herbst 2018 mit seinen voll beladenen Obstbäumen in einer ununterbrochenen Folge warmer Sonnentage hat mich Hölderlins Gedicht begleitet. Auf meinen Spaziergängen durch die Streuobstwiesen fühlte ich mich wie im Paradies. Und dennoch waren hinter der herzerwärmenden Schönheit Abgründe zu erahnen.
So angenehm wie die warme Sonne im Oktober war, weckte sie doch auch die Erinnerung an die Hitzewelle im Sommer, die braunen Felder im Rheintal und im Nordosten Deutschlands, die schlechte Ernte bei Getreide und Gemüse. Noch im Herbst fehlte der Regen in der Natur. Die Jahreszeit erinnerte mich auch an das vorige Jahr, als die Bäume im Spätsommer keine Früchte trugen, da die Blüten durch eine späte Frostperiode im Frühjahr 2017 zerstört worden waren. Es war ein unheimlicher und beängstigender Anblick. Angesichts dieser Bilder, die erfahrbar machen, dass die Ursache nicht eine einmalige, wetterbedingte Naturkatastrophe, sondern der fortschreitende Klimawandel ist, scheint eine unwirtlichere Realität auch für uns Deutsche und Westeuropäer unheimlich im Hintergrund auf.
Und auch gesellschaftlich ist der Winter zu spüren. Hass und Hetze haben sich lautstark einen Platz im öffentlichen Raum erobert, aber sie finden auch einen fruchtbaren Boden in sozialer Ungleichheit, prekären Arbeitsverhältnissen und überhöhten Mietpreisen. Dies hat zu einer Entfremdung von der Mitte der Gesellschaft geführt, deren Folgen noch nicht absehbar sind.
In den wohlhabenderen Schichten unserer westlichen Gesellschaften erscheint, wie in Hölderlins Gedicht, die Fülle des Lebens als Wirklichkeit und das Schreckensszenario als das, was auch eintreten kann.


[1] Die folgenden Überlegungen sind nicht das Ergebnis literaturwissenschaftlicher Forschung, sondern haben sich aus dem Kontext meiner Lebenserfahrung ergeben. Eine ausgezeichnete Interpretation des Gedichts mit Hilfe von Sprachanalysen und mit Bezug auf Hölderlins Denken findet sich in ‘Hälfte des Lebens. Wortgeschichtliche Erläuterungen zu Hölderlins Gedicht‘ von Ulrich Knoop auf www.ulrich-knoop.com/hölderlin/hälfte-des-lebens/, 1999-2007.
[2] In Hölderlins Denken ist gerade der Winter die Zeit für dichterisches Schaffen (Knoop, 1999 – 2007).

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