Samstag, 5. August 2017

Gedicht des Monats August (1): 'An die Imagination' von Emily Brontë





Olin Levi Warner Imagination (1896), Library of Congress
Photographed in 2007 by Carol Highsmith (1946- )




 An die Imagination

        Wenn ich erschöpft von langen Tages Mühen,
        des Lebens Lauf von Schmerz zu Schmerz,
verloren, der Verzweiflung nah,
        ruft deine warme Stimme mich zurück.
        Mein wahrer Freund! So lang du so bezaubernd
        mit mir sprichst, werd ich nicht einsam sein.

        Da keine Hoffnung in der Welt dort draußen,
        schätz ich die Welt in mir um vieles mehr;
        deine Welt, die frei von kaltem Argwohn;
        und ohne List und Hass und Zweifel ist,
        wo einzig du und ich in Freiheit wohnen,
        als unumstrittene Herrscher thronen.

        Was macht es schon, dass wir so ganz
        von Schuld, Gefahr und Dunkelheit umgeben,
        wenn sich geschützt in unserm Innern
        ein ungetrübter, heller Himmel wölbt,
        Warm mit vielen tausend Strahlen,
        von Sonnen, die den Winter nie gekannt.
        
        Mag auch Vernunft sich oft beklagen,
        dass die Welt so traurig ist
        und dem gequälten Herzen sagen
        wie vergebens liebe Träume sind;
        Und Wahrheit mag die neu erblühten Blumen
        der Fantasie brutal zu Boden stampfen:

        Doch du bist immer da das flüchtige Bild
        zurückzuholen, einzuhauchen neue Pracht
        dem welken Frühling, dem Tod
        ein schöneres Leben zu entlocken.
        Und flüsternd mit göttlicher Stimme wirkliche Welten,
        so strahlend wie deine hervorzurufen.

        Dem Trugbild deines Glücks vertraue ich nicht,
        und doch heiß ich, du gütige Macht,
        dich in der stillen Abendstunde
        mit unentwegter Dankbarkeit willkommen;
        treuer Erlöser von menschlichen Sorgen
        und süßere Hoffnung, wenn Hoffnung versiegt.

               von Emily Brontë, 1846

               übersetzt von Gudrun Rogge-Wiest, 2017




In letzter Zeit habe ich mir hin und wieder überlegt auf welche Quellen des Trostes und der Freude ich in existenziellen Situationen zurückgreifen könnte. Dabei habe ich das Gedicht ‚To Imagination‘ von Emily Brontë wiederentdeckt. Darin beschreibt das Sprecher-Ich das Leiden an der äußeren Welt und zeigt auf wie Erschöpfung und Schmerz mit Hilfe der Imagination bewältigt werden können.

Emily Brontë ist eine Autorin, die selbst viel Leid erlebt hat. Krankheit und Tod waren von früher Kindheit an Teil ihres Lebens. Ihre Mutter starb als sie 3 Jahre alt war, wenige Jahre später ihre beiden ältesten Schwestern, die für sie teilweise die Rolle der Mutter einnahmen. Die Eskapaden und die Alkoholsucht des Bruders waren ein ständiger Sorgenfaktor. Er starb als junger Mann, wenig älter als 30 Jahre. Emily selbst war kränklich und sensibel. Sie starb schon im Alter von 30 Jahren an Tuberkulose, noch im selben Jahr wie ihr Bruder.
Vor dem Hintergrund von Emily Brontës leidvoller Erfahrung von Krankheit und Verlust ihr nahestehender Menschen ist die Aussage des Gedichts bemerkenswert. Ich möchte damit nicht behaupten, dass es ein reiner Ausdruck persönlicher und individueller Erfahrungen ist. Vielmehr bilden literarische Konventionen die Matrix auf der sich eine persönliche Aussage abzeichnet. 
Mit der Apostrophe in ‘Oh, my true friend!’ erfolgt eine Personifizierung der Imagination, mit der die allegorische Form begründet und auf den Weg gebracht wird.[1] Die letzten drei Zeilen der ersten Strophe, in denen das Zitat an zentraler Stelle steht, haben den Charakter eines Musenanrufs. [2] Die folgenden Überlegungen beruhen auf dem Topos der Verderbtheit der Welt und der Vergeblichkeit menschlichen Strebens in der Literatur des Barock. Leiden im Diesseits ist nur eine Vorbereitung auf und eine Bewährung für das Leben nach dem Tod. Im weiteren Verlauf des Gedichts erscheinen Imagination, Reason (Vernunft), Truth (Wahrheit), Fancy (Fantasie), Nature (Natur) und Liberty (Freiheit) als allegorische Figuren. Die Imagination wirbt in Konkurrenz zu Reason und Truth um die Seele, wobei sie sich als die stärkere Kraft erweist. Das Gedicht ist Ausdruck der Wertschätzung für ihre wohltuende Wirkung im Stil einer Ode.
Auch wenn die genannten Strukturelemente – das Genre, der Musenanruf und der zentrale Topos -  den literarischen Charakter der Argumentation hervorheben, scheinen die erste und die letzte Strophe die Überlegungen des Sprechers doch in der persönlichen Erfahrung zu verankern. Ausgangspunkt ist die Erschöpfung des lyrischen Ich am Ende eines langen Tages, die Emily mit Sicherheit kannte, da sie verantwortlich für die Haushaltsführung im Pfarrhaus in Haworth war, besonders während der Abwesenheit ihrer Schwester Charlotte. Der Anruf der Imagination als Muse folgt logisch aus dieser Ausgangssituation.
In den Strophen zwei bis fünf stellt die Autorin der negativen Erfahrung der äußeren Welt eine innere Welt gegenüber, deren Schönheit durch Naturbilder visualisiert wird. Die Kräfte, die sie gestalten, sind das Sprecher-Ich, die Imagination und die Freiheit. Die Überlegungen der Sprecherin gehen zwar vom Topos der Vergeblichkeit menschlichen Strebens aus, der inneren Welt fehlt jedoch die religiöse Dimension. Sie wird in ‚a lovelier Life from Death‘ lediglich angedeutet, wobei nur die Stimme der Imagination das Attribut ‚göttlich‘ erhält. Daraus ergibt sich, dass das Sprecher-Ich, sicher teilweise eine Personifikation der Autorin, Hilfe nicht bei der Religion sucht sondern bei der Imagination, die in ihrer allegorischen Form als eine äußere Kraft auftritt, tatsächlich aber in ihr wohnt und die sie sich mit göttlichen Qualitäten ausgestattet denkt. [3]
In der 6. Strophe kehrt das Gedicht wieder auf die Ebene der persönlichen Erfahrung zurück, eingeleitet damit, dass sich das lyrische Ich von der vorigen Begeisterung distanziert. Sie ist sich bewusst, dass die Imagination zwar Trost spenden kann, indem sie das vom analytischen Verstand produzierte illusionslose Bild der Welt vertreibt, gibt sich der Verführung, die dies darstellt aber nicht vorbehaltlos hin. ‚I trust not thy phantom bliss‘ macht deutlich, dass die Imagination nicht mehr als eine vorübergehende Zuflucht bietet und dass die Sprecher-Persona zu jeder Zeit Realität und Imagination getrennt hält. Ich möchte sie natürlich nicht mit der Autorin gleichsetzen, kann aber nicht umhin hinter ihr eine starke Autorpersönlichkeit mit einem gesunden Realitätssinn zu sehen, die ihrem Schicksal mit großer Tapferkeit gegenüber tritt.

Bibliography:

Fletcher, Angus, 1964. Allegory: The Theory of a Symbolic Mode. Ithaca NY: Cornell University Press.

Freud, Sigmund, 1976. The Interpretation of Dreams: The Penguin Freud vol. 4. Harmondsworth: Penguin.

Lewis, C.S., 1936. The Allegory of Love. Cambridge: Cambridge University Press, 2013.

Pizan, Christine de, 1405, La Cité des Dames, Stock/Moyen Age, 2000.

Tambling, Jeremy, 2009. Allegory. London [u.a.]: Routledge.

For biographical information compare https://www.poetryfoundation.org/poets/emily-bronte
Barker, Juliet (1994, 2000) The Brontës. London: Abacus


Olin Levi Warner Imagination (1896), (1844–1896).
Photographed in 2007 by Carol Highsmith (1946- ) Library of Congress, Prints & Photographs Division, LC-DIG-highsm-03137


[1] Tambling (2009),  5: '[...]I will, in order to present personification, assume throughout that it is an allegorical mode, providing concrete forms for complex, abstract ideas which it makes recognizable.' And p. 14: All types of language use incline towards allegory, whose existence indicates the impossibility of keeping an abstract conception, or construction abstract. Thinking, which happens within figures of speech becomes allegorical, giving a visual or linguistic shape to the abstract, which is perceived as personified and personifying, allegorical, creating allegory, and effacing the difference between the abstract and its embodiment as a figure. (14)
[2] Medieval allegories such as Piers Plowman or Chaucer´s The House of Fame and The Parlement of Fowles ‘leave the world of everyday realism behind, by beginning with the narrator falling asleep and dreaming. In the dream world, all identities become allegorical.’ (Tambling (2009), 35). The invocation of ‘Imagination’ in the poem also reminds me of the beginning of La Cité de Dames when the personifications ‘Raison’, ‘Droiture’ and ‘Justice’ appear before the narrator who is in a troubled state of mind.


[3] Fletcher drawing on C.S. Lewis, 1936:75-76 and ultimately Freud, 1975: 321-11 explains the emergence of allegory as a projection of conflicting emotions each onto a separate figure. The conflict can be acted out as a physical battle as in Psychomachia by Prudentius (early 5th century AD) or as a debate as in Owl and Nightingale (12th or 13th century) (Fletcher, 157-8).
 

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