Olin Levi Warner Imagination
(1896), Library of Congress
Photographed in 2007 by Carol Highsmith (1946- ) |
An die Imagination
Wenn ich erschöpft von langen Tages Mühen,
des Lebens Lauf von Schmerz zu Schmerz,
verloren, der Verzweiflung nah,
ruft deine warme Stimme mich zurück.
Mein wahrer Freund! So lang du so bezaubernd
mit mir sprichst, werd ich nicht einsam sein.
Da keine Hoffnung in der Welt dort draußen,
schätz ich die Welt in mir um vieles mehr;
deine Welt, die frei von kaltem Argwohn;
und ohne List und Hass und Zweifel ist,
wo einzig du und ich in Freiheit wohnen,
als unumstrittene Herrscher thronen.
Was macht es schon, dass wir so ganz
von Schuld, Gefahr und Dunkelheit umgeben,
wenn sich geschützt in unserm Innern
ein ungetrübter, heller Himmel wölbt,
Warm mit vielen tausend Strahlen,
von Sonnen, die den Winter nie gekannt.
Mag auch Vernunft sich oft beklagen,
dass die Welt so traurig ist
und dem gequälten Herzen sagen
wie vergebens liebe Träume sind;
Und Wahrheit mag die neu erblühten Blumen
Und Wahrheit mag die neu erblühten Blumen
der Fantasie brutal zu Boden stampfen:
Doch du bist immer da das flüchtige Bild
zurückzuholen, einzuhauchen neue Pracht
dem welken Frühling, dem Tod
ein schöneres Leben zu entlocken.
Und flüsternd mit göttlicher Stimme wirkliche Welten,
so strahlend wie deine hervorzurufen.
Dem Trugbild deines Glücks vertraue ich nicht,
und doch heiß ich, du gütige Macht,
dich in der stillen Abendstunde
mit unentwegter Dankbarkeit willkommen;
treuer Erlöser von menschlichen Sorgen
und süßere Hoffnung, wenn Hoffnung versiegt.
von Emily Brontë, 1846
übersetzt von
Gudrun Rogge-Wiest, 2017
In letzter Zeit habe ich mir
hin und wieder überlegt auf welche Quellen des Trostes und der Freude ich in
existenziellen Situationen zurückgreifen könnte. Dabei habe ich das Gedicht ‚To
Imagination‘ von Emily Brontë wiederentdeckt. Darin beschreibt das Sprecher-Ich
das Leiden an der äußeren Welt und zeigt auf wie Erschöpfung und Schmerz mit
Hilfe der Imagination bewältigt werden können.
Emily Brontë ist eine
Autorin, die selbst viel Leid erlebt hat. Krankheit und Tod waren von früher
Kindheit an Teil ihres Lebens. Ihre Mutter starb als sie 3 Jahre alt war,
wenige Jahre später ihre beiden ältesten Schwestern, die für sie teilweise die
Rolle der Mutter einnahmen. Die Eskapaden und die Alkoholsucht des Bruders
waren ein ständiger Sorgenfaktor. Er starb als junger Mann, wenig älter als 30
Jahre. Emily selbst war kränklich und sensibel. Sie starb schon im Alter von 30
Jahren an Tuberkulose, noch im selben Jahr wie ihr Bruder.
Vor dem Hintergrund von
Emily Brontës leidvoller Erfahrung von Krankheit und Verlust ihr nahestehender
Menschen ist die Aussage des Gedichts bemerkenswert. Ich möchte damit nicht
behaupten, dass es ein reiner Ausdruck persönlicher und individueller
Erfahrungen ist. Vielmehr bilden literarische Konventionen die Matrix auf der sich
eine persönliche Aussage abzeichnet.
Mit der Apostrophe in ‘Oh,
my true friend!’ erfolgt eine Personifizierung der Imagination, mit der die
allegorische Form begründet und auf den Weg gebracht wird.[1]
Die letzten drei Zeilen der ersten Strophe, in denen das Zitat an zentraler
Stelle steht, haben den Charakter eines Musenanrufs. [2]
Die folgenden Überlegungen beruhen auf dem Topos der Verderbtheit der Welt und
der Vergeblichkeit menschlichen Strebens in der Literatur des Barock. Leiden im
Diesseits ist nur eine Vorbereitung auf und eine Bewährung für das Leben nach
dem Tod. Im weiteren Verlauf des Gedichts erscheinen Imagination, Reason
(Vernunft), Truth (Wahrheit), Fancy (Fantasie), Nature (Natur) und Liberty
(Freiheit) als allegorische Figuren. Die Imagination wirbt in Konkurrenz zu
Reason und Truth um die Seele, wobei sie sich als die stärkere Kraft erweist.
Das Gedicht ist Ausdruck der Wertschätzung für ihre wohltuende Wirkung im Stil
einer Ode.
Auch wenn die genannten
Strukturelemente – das Genre, der Musenanruf und der zentrale Topos - den literarischen Charakter der Argumentation
hervorheben, scheinen die erste und die letzte Strophe die Überlegungen des
Sprechers doch in der persönlichen Erfahrung zu verankern. Ausgangspunkt ist
die Erschöpfung des lyrischen Ich am Ende eines langen Tages, die Emily mit
Sicherheit kannte, da sie verantwortlich für die Haushaltsführung im Pfarrhaus
in Haworth war, besonders während der Abwesenheit ihrer Schwester Charlotte.
Der Anruf der Imagination als Muse folgt logisch aus dieser Ausgangssituation.
In den Strophen zwei bis
fünf stellt die Autorin der negativen Erfahrung der äußeren Welt eine innere
Welt gegenüber, deren Schönheit durch Naturbilder visualisiert wird. Die
Kräfte, die sie gestalten, sind das Sprecher-Ich, die Imagination und die
Freiheit. Die Überlegungen der Sprecherin gehen zwar vom Topos der
Vergeblichkeit menschlichen Strebens aus, der inneren Welt fehlt jedoch die
religiöse Dimension. Sie wird in ‚a lovelier Life from Death‘ lediglich
angedeutet, wobei nur die Stimme der Imagination das Attribut ‚göttlich‘
erhält. Daraus ergibt sich, dass das Sprecher-Ich, sicher teilweise eine
Personifikation der Autorin, Hilfe nicht bei der Religion sucht sondern bei der
Imagination, die in ihrer allegorischen Form als eine äußere Kraft auftritt,
tatsächlich aber in ihr wohnt und die sie sich mit göttlichen Qualitäten
ausgestattet denkt. [3]
In der 6. Strophe kehrt das
Gedicht wieder auf die Ebene der persönlichen Erfahrung zurück, eingeleitet damit,
dass sich das lyrische Ich von der vorigen Begeisterung distanziert. Sie ist
sich bewusst, dass die Imagination zwar Trost spenden kann, indem sie das vom
analytischen Verstand produzierte illusionslose Bild der Welt vertreibt, gibt
sich der Verführung, die dies darstellt aber nicht vorbehaltlos hin. ‚I trust
not thy phantom bliss‘ macht deutlich, dass die Imagination nicht mehr als eine
vorübergehende Zuflucht bietet und dass die Sprecher-Persona zu jeder Zeit
Realität und Imagination getrennt hält. Ich möchte sie natürlich nicht mit der
Autorin gleichsetzen, kann aber nicht umhin hinter ihr eine starke
Autorpersönlichkeit mit einem gesunden Realitätssinn zu sehen, die ihrem
Schicksal mit großer Tapferkeit gegenüber tritt.
Bibliography:
Fletcher, Angus, 1964. Allegory: The Theory of
a Symbolic Mode. Ithaca NY: Cornell University Press.
Freud, Sigmund, 1976. The Interpretation of Dreams: The Penguin Freud
vol. 4. Harmondsworth: Penguin.
Lewis, C.S., 1936. The Allegory of
Love. Cambridge: Cambridge University Press, 2013.
Pizan, Christine de, 1405, La Cité
des Dames, Stock/Moyen Age, 2000.
Tambling, Jeremy, 2009. Allegory.
London [u.a.]: Routledge.
For biographical information compare https://www.poetryfoundation.org/poets/emily-bronte
Barker, Juliet (1994, 2000) The Brontës. London:
Abacus
Olin Levi Warner Imagination
(1896), (1844–1896).
Photographed in 2007 by Carol Highsmith (1946- ) Library of Congress,
Prints & Photographs Division, LC-DIG-highsm-03137
[1] Tambling (2009), 5: '[...]I will, in order to present
personification, assume throughout that it is an allegorical mode, providing
concrete forms for complex, abstract ideas which it makes recognizable.' And p.
14: All types of language use incline towards allegory, whose existence
indicates the impossibility of keeping an abstract conception, or construction
abstract. Thinking, which happens within figures of speech becomes allegorical,
giving a visual or linguistic shape to the abstract, which is perceived as
personified and personifying, allegorical, creating allegory, and effacing the
difference between the abstract and its embodiment as a figure. (14)
[2] Medieval allegories such as Piers Plowman or
Chaucer´s The House of Fame and The Parlement of Fowles ‘leave
the world of everyday realism behind, by beginning with the narrator falling
asleep and dreaming. In the dream world, all identities become allegorical.’ (Tambling
(2009), 35). The invocation of ‘Imagination’ in the poem also reminds me of the
beginning of La Cité de Dames when
the personifications ‘Raison’, ‘Droiture’ and ‘Justice’ appear before the
narrator who is in a troubled state of mind.
[3] Fletcher drawing on C.S.
Lewis, 1936:75-76 and ultimately Freud, 1975: 321-11 explains the emergence of
allegory as a projection of conflicting emotions each onto a separate figure.
The conflict can be acted out as a physical battle as in Psychomachia by Prudentius (early 5th century AD) or as
a debate as in Owl and Nightingale
(12th or 13th century) (Fletcher, 157-8).
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