Donnerstag, 30. August 2018

Rezension: Ein Ausweg aus der Krise: G­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­eorge Monbiot, Out of the Wreckage. A New Politics for an Age of Crisis. London/New York: Verso, 2017




In Out of the Wreckage (Ein Ausweg aus der Krise) skizziert George Monbiot mitreißend seine Vision für eine gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Neuorientierung zur wirksameren Bekämpfung von Armut, sozialer Benachteiligung, Umweltzerstörung und Klimaerwärmung.
Der Autor bezieht zwar seine Daten hauptsächlich aus der britischen und der amerikanischen Gesellschaft, wo der Sozialstaat stark zurückgebaut und die Armutsrate höher ist, sein Buch ist aber auch für deutsche und kontinentaleuropäische Leser eine inspirierende Lektüre, ideal für einen Urlaub, wenn man Zeit hat zur Ruhe zu kommen und nachzudenken, denn der Autor will seine Leser aus den gewohnten Denkmustern herausreißen und für nichts weniger als einen Paradigmenwechsel gewinnen: das neoliberale Gesellschaftsmodell der westlichen Demokratien habe in die Sackgasse geführt, und es gelte nun es durch ein neues, überzeugenderes Modell zu ersetzen.

Neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen zufolge entspreche es gar nicht primär der menschlichen Natur in ständiger Konkurrenz mit anderen allein nach individuellem Erfolg, definiert durch Karriere, sozialen Status und Reichtum,  zu streben, so wie es die Befürworter einer kapitalistischen Weltordnung seit den 80er Jahren glauben machen konnten. Vielmehr spielen Teilhabe, Engagement für andere und Kooperation eine zentrale Rolle für ein zufriedenes und erfülltes Leben.[i] Die Beschränkung auf den persönlichen Erfolg dagegen bezahle der Mensch mit Vereinzelung und Vereinsamung und  deren vielfachen negativen Auswirkungen.
Die ermutigende, optimistische Botschaft ist daher: orientieren wir uns neu. Beginnen wir damit uns wieder als verantwortungsvolle Bürger zu sehen, die nicht gegeneinander arbeiten, sondern im gemeinsamen Interesse füreinander und miteinander. Erfolgreiche aus verschiedenen Teilen der Welt weisen den Weg: Gemeinschaftsgärten, Mitmachwerkstätten (z.B. für Fahrräder), Vermittlung und Austausch von Hilfsdiensten innerhalb des Stadtviertels, Kooperativen, das Projekt ‚Stadt im Wandel‘ mit dem Ziel fossile Brennstoffe zu vermeiden und regionale Versorgung zu fördern, Gemeindearbeit gegen Vereinsamung und Verrohung auch unter Beteiligung der Kirchen.
Dabei ist es wichtig, dass es nicht bei einzelnen Initiativen bleibt, sondern dass erfolgreiche Projekte zu weiteren Projekten anregen, dass sich auch Geschäftsideen entwickeln, aus denen wiederum Arbeitsplätze und Verdienstmöglichkeiten entstehen. 10 -15 % der Bürger sollten sich engagieren, damit sich auf längere Sicht ein lebendiges Stadtviertel, eine lebendige‚ ‚community‘ entwickelt.  
Sind diese Strukturen und Netzwerke erst einmal aufgebaut, ist die ‚community‘ auch widerstandsfähiger und integrationsfähiger: Widerstandsfähiger, da sie für die Gefahren sensibilisiert ist, denen öffentliches Eigentum ausgesetzt ist und bei Privatisierungsplänen, Bauvorhaben oder Umweltschutzfragen die Interessen der Bürger wirksamer vertreten kann. Integrationsfähiger, da Bürger aller Einkommensgruppen einbezogen werden können, einschließlich neu Zugezogener darunter auch Zuwanderer und Geflüchtete (S. 86 ff).    
Monbiot warnt jedoch davor, dass die Regierungen bürgerschaftliches Engagement als Vorwand nehmen könnten, die Sozialsysteme (weiter) zurückzubauen. Unterstützung, auch finanzielle Unterstützung von Seiten der Gemeinde- bzw. Stadtverwaltungen sei unerlässlich. 


Wie sieht es nun aber mit den nationalen und globalen Problemen aus, der politischen Entmachtung des Wählers trotz Demokratie, der Übermacht der Konzerne, der zunehmenden Zerstörung der Umwelt, dem Klimawandel?

Eine Patentlösung wird der Autor nicht vorlegen, aber er präsentiert eine kritische Übersicht von Handlungs- und Reformmöglichkeiten auf den verschiedenen politischen Entscheidungsebenen.
Die theoretische Grundlage für seine Ausführungen ist das alternative Wirtschaftsmodell von Kate Raworth, die die Wirtschaft eingebettet sieht in die größeren Zusammenhänge von Gesellschaft und Umwelt (earth) (Die Graphiken ‚The embedded economy‘, zitiert in Monbiot S. 121 und ‚The Doughnut‘, S. 123). Nicht mehr wirtschaftliches Wachstum soll der Indikator für eine positive Entwicklung sein, sondern das Wohlergehen der Bevölkerung.

„[…] statt Wirtschaftswachstum unabhängig davon ob es uns gut geht, brauchen wir eine Wirtschaft, die bewirkt, dass es gut geht.“ Raworth (2017) zitiert in Monbiot S. 125, [Übersetzung der Rezensentin]

Die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung soll sich dabei an den Zielen für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, verabschiedet im Jahr 2015) der UN orientieren, mit dem Ideal bis 2030 die Grundbedürfnisse aller Menschen zu erfüllen ohne die Lebensgrundlagen weiter zu zerstören (‘meeting the needs of all within the means of the planet’, Monbiot, S. 123).


Aber wie lässt eine Umorientierung in die Praxis umsetzen?

Die Handlungsoptionen, die Monbiot aufzeigt, basieren auf dem Grundgedanken der Rückeroberung und des Wiedergewinns von Kontrolle über gemeinschaftliches Eigentum , das seit den 1980er Jahren privatisiert wurde. Die Liste der Beispiele ist je nach Land unterschiedlich: meistens gehören die Stromversorgung, der öffentliche Nahverkehr, Immobilien und Sozialwohnungen dazu, in England auch die Wasserversorgung. [Ein aktuelles Beispiel in Deutschland ist die Autobahnmaut für Lastwagen[ii]]. Wenn die Zahl der Arbeitsplätze wie vorhergesagt tatsächlich stark abnimmt und damit Erwerbsarbeit als Grundlage für den Lebensunterhalt für viele nicht mehr ausreicht, wäre die Rekommunalisierung/Renationalisierung ein Weg um dennoch eine umfassende Versorgung zu fairen Preisen für alle sicherzustellen.[iii] In manchen Ländern müsste die Liste durch gute öffentliche Schulen und Kindergärten sowie Sozialdienste für die Altenpflege ergänzt werden.
Mieten und Kaufen von Wohneigentum muss wieder bezahlbarer werden. [Die deutschen Städte Ulm und Tübingen sind gute Beispiele dafür wie die Städte Gestaltungsspielraum zurückgewinnen können. – Anmerkung der Rezensentin] [iv] Eine vernünftige und gerechte Maßnahme wäre ererbtes Grundeigentum zu besteuern sowie Grundeigentum, dessen Wert durch die vorhandene Infrastruktur und die Lebensqualität im Stadtviertel gestiegen ist. Dadurch würde die Gemeinschaft der Steuerzahler zu recht für die Wertsteigerung entschädigt werden, die sie geschaffen hat und die Gefahr einer Immobilienblase könnte abgewendet werden. [v]
Wahlsysteme müssen so konzipiert sein, dass auch jede Wählerstimme zählt (Monbiot, S. 132-137). Die Finanzierung von Wahlkämpfen müsste gesetzlich so geregelt werden, dass Geld nicht mehr ausschlaggebend für einen Wahlsieg ist. (Monbiot, S. 145-147)

Dazu kommt, dass eine funktionierende Demokratie mehr ist als die Teilnahme an Wahlen. Die Bürger sollten mehr Mitspracherecht bei der Gestaltung öffentlicher Haushalte haben. Bürgerversammlungen (citizens´ conventions, Monbiot S. 141), zum Beispiel nach dem erfolgreich erprobten irischen Modell[vi], könnten auch während der Legislaturperiode zur Meinungsbildung und Entscheidungsfindung der Regierenden beitragen.
Während im neoliberalen Modell der Staat geradezu als Gegner des Bürgers dargestellt wird, hebt Monbiot die schützende Funktion des Staates hervor, die nicht mit staatlicher Bevormundung gleichzusetzen ist und die er wahrnimmt, indem er die Infrastruktur in Stand hält, Sozial- und Umweltstandards garantiert und die Armut z.B. durch Umverteilung bekämpft.

Der Staat – so parteiisch, fehlerhaft und unterdrückerisch er auch ist  – ist das einzige was zwischen uns und der entfesselten Macht von Geld und Waffen steht. Deswegen versuchen Konzerne und Billionäre auch ihn seiner Kernfunktionen zu entledigen: dem Schutz der Menschen und der Natur, der Umverteilung von Wohlstand, dem Schaffen eines sozialen Netzes und der Bereitstellung kostenloser umfassender öffentlicher Dienstleistungen. S. 138 [Übersetzung der Rezensentin]

Politische Kompetenzen sollten nach dem Prinzip, der Subsidiarität verteilt, also möglichst dezentralisiert werden, so dass Entscheidungen auf einer möglichst niedrigen politischen Ebene gefällt werden, die dann zur Finanzierung auch angemessen mit steuerlichen Mitteln ausgestattet werden muss. (Monbiot, S. 130)



Ein Ausweg aus der Krise

[…] die freiheitliche Demokratie ist in Gefahr, wenn die Menschen die Zunahme privater Macht hinnehmen bis zu einem Punkt, wo sie stärker wird als der demokratische Staat selbst’.
Franklin D. Roosevelt, ‚Message to Congress on Curbing Monopolies‘, 1938,
at presidency.ucsb.edu., zitiert in Monbiot S. 48, [Übersetzung der Rezensentin]

Insgesamt ist Monbiots Vision ein Steinbruch guter Reformvorschläge auf der Grundlage eines integrativen Wirtschaftsmodells. Sie gewinnt Überzeugungskraft dadurch, dass sie vom Menschen, seinem Wesen und seinen Bedürfnisse ausgeht und stimmt optimistisch, da viele der aufgezeigten Projekte schon an irgendeinem Ort der Welt funktionieren. Ja, man kann politischer Entmachtung durch bürgerschaftliches Engagement entgegenwirken.  
Natürlich kann man einwenden, dass das vorgestellte Modell gar nicht so neu ist. Eigentlich wurden ja schon auf der Klimarahmenkonvention von Rio de Janeiro 1992 von 172 Unterzeichnerländern Leitlinien für eine nachhaltige Entwicklung vorgegeben. Zu ihrer Umsetzung auf lokaler Ebene wurden z.B. in Deutschland vielerorts Initiativen für eine Lokale Agenda zur Förderung von sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit gegründet, die sehr viel gute Arbeit geleistet haben und teilweise immer noch aktiv sind. Umwelt- und Naturschutzvereine leisten wertvolle Lobbyarbeit auf allen Ebenen der Politik.
Aber, wie auch der Autor hervorhebt: das Konzept der Nachhaltigkeit wird zwar in politischen Debatten immer wieder hochgehalten, ist aber häufig nur Fassade. So wird aus dem Konzept des  sustainable growth (nachhaltiges Wachstum) schnell einmal sustained growth (stetiges Wachstum) (Monbiot, S. 114).
Deshalb ist eine erneute Sensibilisierung so wichtig. Der Mensch gewöhnt sich so sehr an gegebene Verhältnisse und Ordnungssysteme, dass er/sie ihre Schwächen nicht mehr wahrnimmt. [vii] Dies ist ein Grund warum das neoliberale Wirtschaftsmodell sich als so hartnäckig erweist. Ein weiterer ist der zunehmende Einfluss neoliberaler, von superreichen Sponsoren finanzierter Think Tanks, die das in Friedrich Hayeks ‚Die Verfassung der Freiheit‘ (1960) entworfene Weltbild propagieren, nach welchem die Freiheit der Reichen den höchsten Wert darstellt auf Kosten von Demokratie und politischer Freiheit (Monbiot, S. 32-33).  Monbiots Darstellung des Siegeszugs des Neoliberalismus, seine Vereinnahmung der sozialdemokratischen Parteien im sogenannten ‚Dritten Weg‘, und sein mit der Wirtschaftskrise 2008 offensichtlich werdendes Scheitern leistet eine dringend notwendige Aufklärung. (S. 33-51).
Vor allem in der amerikanischen Gesellschaft konnte sich diese Ideologie schon so weit durchsetzen, dass man das System durchaus als Plutokratie bezeichnen kann, die die demokratischen Elemente zunehmend verdrängt (Zum politischen System und der Parteienfinanzierung in den USA, Monbiot S. 133-136). Durch seine Darstellung der amerikanischen Verhältnisse ist Out of the Wreckage nicht zuletzt eine überzeugende Warnung vor einer weiteren Amerikanisierung der westlichen liberalen Demokratien – Rückbau staatlicher Funktionen und Institutionen und zunehmende Macht der Wirtschafts- und Bankenlobby – eine Richtung, die ja zum Beispiel auch von manchen politischen Gruppierungen in Deutschland vertreten wird.
Trotz aller guten Ansätze wird es sich als unglaublich schwierig erweisen, die Macht der Wirtschafts- und Bankenlobby einzugrenzen. Oft fehlt aber auch der politische Wille dazu Schlupflöcher zu beseitigen. Im gerne gelobten Deutschland z.B. vermeiden große Investoren die Grunderwerbssteuer von 5 %, indem sie sie durch sogenannte Share Deals umgehen und heizen dadurch die Spekulationsblase weiter an – auch ein Beispiel für das, was Monbiot ‚daylight robbery‘ nennt.[viii]
Für alle, die für Veränderung kämpfen wollen, lohnt es sich das Kapitel ‚Making it Happen‘ zur erfolgreichen Durchführung von Kampagnen zu lesen


[i]  (1) C. Daniel Batson, Altruism in Humans. Oxford University Press, 2011
  Kristian Ove et al. ‘Models Inconsistent with Altruism Cannot Explain the Evolution of Human Cooperation’, 
  (2) Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States 113: 18 (May 2016), at pnas.org
[ii] Eine Darstellung des Sachverhalts findet man zum Beispiel in ‚Ein Kartell gegen die Steuerzahler‘, 9.8.18,    
[iii] Ein beeindruckendes Beispiel sind die Elektrizitätswerke Schönau (EWS), ein bürgereigenes Energieversorgungsunternehmen. https://www.ews-schoenau.de/ews/ueber-die-ews/
[iv] Hanno Rauterberg ‚Der letzte Grund. In Wahrheit ist die Wohnkrise eine Bodenkrise. Nur der Bund kann sie lösen und die Spekulationen beenden.‘ DIE ZEIT, 11.1.2018
[v] Hanno Rauterberg ‚Der letzte Grund. In Wahrheit ist die Wohnkrise eine Bodenkrise. Nur der Bund kann sie lösen und die Spekulationen beenden.‘ DIE ZEIT, 11.1.2018. As outlined in the article, the policies of the German cities Ulm and Tübingen are good examples of how control cam be taken back. 
[vi] Die Bürgerversammlungen in Irland könnten ein Modell für die Bürgerbeteiligung der Zukunft in
Deutschland/Europa sein. Sie sind zusammengesetzt aus durch Los bestimmten Mitgliedern, die von
Ex­perten umfassend informiert werden. Am Ende des Meinungsbildungsprozesses geben sie eine
Empfeh­lung an das nationale Parlament ab ('Zur Wahl steht: Die Demokratie', Die ZEIT, 19.1.2017)
[vii] Daniel Pauly, ‚Anecdotes and the Shifting Baseline Syndrome of Fisheries‘, Trends in Ecology and Evolution 10:10 (October 1995), at sciencedirect.com
[viii] Felix Rohrbeck und Marcus Rohwetter ‚Rettet die Stadt‘, Die ZEIT, 11.1.2018

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