Sonntag, 8. September 2019

Gedicht für September 2019/Februar 2020: Der Herr von Ribbeck auf Ribbeck von Theodor Fontane (update 2.8.2020)



‚Herr von Ribbeck auf Ribbeck‘
Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland,
Ein Birnbaum in seinem Garten stand,
Und kam die goldene Herbsteszeit
Und die Birnen leuchteten weit und breit,
Da stopfte, wenn's Mittag vom Turme scholl,
Der von Ribbeck sich beide Taschen voll,
Und kam in Pantinen ein Junge daher,
So rief er: ‚Junge, wiste 'ne Beer?‘
Und kam ein Mädel, so rief er: ‚Lütt Dirn,
Kumm man röwer, ick hebb 'ne Birn.‘

So ging es viel Jahre, bis lobesam
Der von Ribbeck auf Ribbeck zu sterben kam.
Er fühlte sein Ende. 's war Herbsteszeit,
Wieder lachten die Birnen weit und breit;
Da sagte von Ribbeck: ‚Ich scheide nun ab.
Legt mir eine Birne mit ins Grab.‘
Und drei Tage drauf, aus dem Doppeldachhaus,
Trugen von Ribbeck sie hinaus,
Alle Bauern und Büdner mit Feiergesicht
Sangen ‚Jesus meine Zuversicht‘[1],
Und die Kinder klagten, das Herze schwer:
‚He is dod nu. Wer giwt uns nu 'ne Beer?‘

So klagten die Kinder. Das war nicht recht -
Ach, sie kannten den alten Ribbeck schlecht;
Der neue freilich, der knausert und spart,
Hält Park und Birnbaum strenge verwahrt.
Aber der alte, vorahnend schon
Und voll Mißtraun gegen den eigenen Sohn,
Der wußte genau, was damals er tat,
Als um eine Birn' ins Grab er bat,
Und im dritten Jahr aus dem stillen Haus
Ein Birnbaumsprößling sproßt heraus.

Und die Jahre gingen wohl auf und ab,
Längst wölbt sich ein Birnbaum über dem Grab,
Und in der goldenen Herbsteszeit
Leuchtet's wieder weit und breit.
Und kommt ein Jung' übern Kirchhof her,
So flüstert's im Baume: ‚Wiste 'ne Beer?‘
Und kommt ein Mädel, so flüstert's: ‚Lütt Dirn,
Kumm man röwer, ick gew' di 'ne Birn.‘

So spendet Segen noch immer die Hand
Des von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland.

Theodor Fontane (1889)[2]

Das Modell für den Herrn von Ribbeck in Fontanes Ballade ist Hans Georg von Ribbeck (1689–1759[3], ein adliger Gutsbesitzer im Havelland westlich von Berlin, das damals zu Preußen gehörte und heute in Brandenburg liegt.
Dass er Birnen von seinem Baum an die Kinder in der Umgebung verschenkt, ist Ausdruck seiner Nächstenlie­be. Ich stelle ihn mir ähnlich wie Lord Grantham in der Serie Downton Abbey vor, ein sozial gesinnter, wohlmeinender Patriarch, der den Familienbesitz verantwortungsvoll verwaltet und sich seinen Angestellten und Pächtern gegenüber fair verhält, der aber die Ständeordnung, der er seine privilegierte Stellung zu verdanken hat, nicht in Frage stellt.
Mit seinem Tod steht jedoch in Zweifel, ob ihm mit seinem Sohn ein ebenso sozial gesinnter Patriarch nachfolgt. Die Führung des Guts durch diesen Sohn macht dann auch deutlich, wie prekär die Situation der ärmeren Gesellschaftsschichten ist, wenn ihr Wohlergehen nur vom guten Willen des Gutsherrn abhängt.
Die Vorsorge seines Vaters für diesen Fall, die er in letzter Minute trifft, verweist auf ein fortschrittlicheres Modell der Teilhabe am Wohlstand. Aus der Birne, die er mit in sein Grab nimmt, entsteht ein Baum, von dem sich die Kinder selbst Birnen nehmen können. Er hat aber so spät daran gedacht, dass die Kinder ein paar Jahre warten müssen bis wieder Birnen wachsen.
Diese Lücke in der Versorgung macht erst die Machtverhältnisse hinter dem scheinbar so idyllischen ersten Eindruck bewusst. Der adlige Gutsbesitzer ist nicht zur Wohltätigkeit verpflichtet. Sie ist ein Akt der Großzügigkeit, den er sich leisten kann, und obwohl es eine fürsorgliche Geste ist, gehört sie doch zur Struktur der ständischen Gesellschaft. Wenn der Adlige wohltätig ist, be­kommt er dafür gesellschaftliche Anerkennung. Wohltätigkeit kann sogar eine kluge Strategie sein, weil die Stellung der adligen Familie durch die Dankbarkeit und Gefügigkeit der Abhängigen bestätigt und gefestigt wird. Beschließt der adlige Gutsbesitzer aber, es nicht zu sein, so stellt das die Legitimität seiner Stellung auch nicht in Frage.
Das Wohlwollen des alten Ribbeck entspricht dem Zeitgeist des 18. Jahrhunderts. Als Gegenbewegung zum Rationalismus des 17. Jahrhunderts wurden Emotionen als Quelle für das moralische Bewusstsein entdeckt.[4] Empfindsamkeit, Zuwendung und Versöhnung, wurden in der Literatur thematisiert und zum gesellschaftlichen Ideal erhoben. Der alte Ribbeck ist eine Verkörperung dieses Ideals, für das es gewiss in der historischen Wirklichkeit noch weitere Beispiele gab. Sein Sohn ist sein abschreckendes Gegenbild, was zeigt, wie die Situation bedingt durch die ständischen Machtverhältnisse auch sein kann und sicher nicht selten war. 
Der Vergleich des alten mit dem neuen Ribbeck kann als implizite Kritik des Autors an den gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen seiner eigenen Zeit verstanden werden.[5] Die Abfolge von zeitweiliger Liberalisierung, wie sie mit der Revolution von 1848 erfolgte, und anschließender Restauration war Fontane (1819-1898) schmerzhaft vertraut. Er litt am autoritären, ständisch geprägten preußischen Staat, in dessen Diensten er lange stand, von dem er finanziell abhängig war und der ihn durch seine Willkür, seine Knausrigkeit und den Zwang zur Anpassung an seine ideologischen Vorgaben demütigte. Obwohl er für die nationalkonservative Kreuzzeitung schrieb, die ständische und höfische Interessen und antisemitische Positionen vertrat, stand er der preußischen Ständeordnung kritisch gegenüber und war offen für Modernisierung in allen Bereichen.[6] Als akribischer Zeitungleser hat er das Entstehen der Arbeiterbewegung und die Anfänge eines Sozialstaats in Deutschland nach 1871 sicher mit Interesse beobachtet. Auch an seiner eigenen prekären Situation lässt sich ablesen, wie sinnvoll und wertvoll eine gesetzlich geregelte staatliche Unterstützung für die durch Krankheit, Unfall oder Arbeitslosigkeit in Not Geratenen ist.
Ein bisschen Sozialkritik und ein bisschen Sozialutopie - der Traum, dass es allen Menschen gut gehen möge - stecken sicher in seiner Ballade. In jedem Fall aber bleibt ihr Protagonist mit seiner Güte und Nächstenliebe ein Vorbild für Menschlichkeit.


[1] ‚Jesu, meine Zuversicht‘ ist ein deutsches Evangelisches Kirchenlied. […]Erstmals veröffentlicht wurde das Lied 1653 in dem Gesangbuch für die Reformierten in der Mark Brandenburg des Berliner Verlegers Christoph Runge: Geistliche Lieder und Psalmen,
de.wikipedia.org/wiki/Jesus,_meine_Zuversicht
[2] Deutsche Gedichte. Eine Anthologie, Reclam, 2000, 223.
[3] de.wikipedia.org/wiki/Hans_Georg_von_Ribbeck. Das Herrenhaus, das auf der Homepage www.von ribbeck.de abgebildet ist, wurde im späten 19. Jahrhundert gebaut, ist also nicht das Doppeldachhaus.
[4] Deutsche Literatur in Schlaglichtern, Hrsg: Bernd Balzer und Volker Mertens, Mannheim: Meyers Lexikonverlag, 1990, 201 ff. Die englischen Autoren Anthony A. Earl of Shaftesbury (1621-1683) und Francis Hutcheson (1694-1746) legten die philosophischen Grundlagen. ‚Hutcheson postuliert, dass wir wohlwollende Gefühle und Leidenschaften haben, im Gegensatz zu der von ihm Hobbes und Mandeville zugeschriebenen Auffassung, dass alle Leidenschaften in letzter Konsequenz Formen des Eigeninteresses sind. Eigeninteresse, so behauptet er, kann nicht erklären, warum wir unser Handeln gutheißen und insbesondere, warum wir uns mit denjenigen identifizieren, die eine gütige Persönlichkeit besitzen.‘ Amy M. Schmitter, Francis Hutcheson on the Emotions (1694-1746), Supplement to 17th and 18th Century Theories of Emotions, 2010,
Stanford Encyclopedia of Philosophy, plato.stanford.edu/entries/emotions-17th18th/LD7Hutcheson.html, [meine Übersetzung].
[5] Meine Hauptquelle hierfür ist Iwan-Michelangelo D´Aprile Fontane, Ein Jahrhundert in Bewegung. Hamburg: Rowohlt Verlag, 2. Auflage, Februar 2019. D´Aprile arbeitet heraus, wie Fontane mit Hilfe von Analogien in seinen Balladen einen politischen Gehalt zum Ausdruck bringt. Seine Bezugspunkte sind Legenden, historische Stoffe oder seine eigenen Beobachtungen, nicht zuletzt auch während seiner Aufenthalte in dem im Vergleich zu Preußen liberaleren und fortschrittlicheren Großbritannien. Ein Verweis auf die in der damaligen Zeit in liberalen Kreisen idealisierte Regierungszeit Friedrichs des Großen (1740-1786), zum Beispiel, war ein beliebtes Stilmittel, um Kritik am autoritären Staat zu üben (144, 156-158).
[6]Dies galt insbesondere für seine eigenen Fachgebiete, die Presse, die Literatur und das Theater (D´Aprile, 396 ff. und 412-3)

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