Sonntag, 4. Februar 2018

Gedicht für Februar 2018: 'Vereinsamt' von Friedrich Nietzsche



Nein, das Gedicht ist kein persönlicher Hilfeschrei.
Als ich es heute wieder einmal las, dachte ich an die vielen Flüchtenden,
die der Kälte des Winters ausgesetzt sind,
die ihre Heimat verloren haben,
aber fern von ihr auch keinen Platz für sich und ihre Familie finden.


Vereinsamt

Die Krähen schrein
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
Bald wird es schnein –
Wohl dem, der jetzt noch – Heimat hat!

Nun stehst du starr,
Schaust rückwärts ach! Wie lange schon!
Was bist du Narr
Vor Winters in die Welt entflohn?

Die Welt – ein Tor
Zu tausend Wüsten stumm und kalt!
Wer das verlor,
Was du verlorst, macht nirgends halt.

Nun stehst du bleich,
Zur Winter-Wanderschaft verflucht,
Dem Rauche gleich,
Der stets nach kältern Himmeln sucht.

Flieg, Vogel, schnarr
Dein Lied im Wüsten-Vogel-Ton! –
Versteck, du Narr,
Dein blutend Herz in Eis und Hohn!

Die Krähen schrein
Und ziehen schwirren flugs zur Stadt:
Bald wird es schnein,
Weh dem, der keine Heimat hat!

Friedrich Nietzsche, 1884, in: Hrsg. Dietrich Bode (2000) Deutsche Gedichte. Eine Anthologie. Reclam



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