Donnerstag, 1. Februar 2018

'Sansibar oder der letzte Grund' - eine Einladung zum kritischen Lesen und Denken (update 2.8.2020)



"Dann wurde er […] sich der Anwesenheit der Figur bewußt. Sie saß klein auf einem niedrigen Sockel aus Metall, zu Füßen des Pfeilers schräg gegenüber. Sie war aus Holz geschnitzt, das nicht hell und nicht dunkel war, sondern einfach braun. Gregor näherte sich ihr. Die Figur stellte einen jungen Mann dar, der in einem Buch las, das auf seinen Knien lag. Der junge Mann trug ein langes Gewand, ein Mönchsgewand, nein, ein Gewand, das noch einfacher war als das eines Mönchs: einen langen Kittel. Unter dem Kittel kamen seine nackten Füße hervor. Seine beiden Arme hingen herab. Auch seine Haare hingen herab, glatt, zu beiden Seiten der Stirn, die Ohren und die Schläfen verdeckend. […]
Wie alt ist er? So alt wie wir waren, als wir genauso lasen. Achtzehn, höchstens achtzehn. Gregor bückte sich tiefer, um dem jungen Mann gänzlich ins Gesicht sehen zu können. Er trägt unser Gesicht, dachte er, das Gesicht unserer Jugend, das Gesicht der Jugend, die ausgewählt ist, die Texte zu lesen, auf die es ankommt. Aber dann bemerkte er auf einmal, daß  der junge Mann ganz anders war. Er war gar nicht versunken. Er war nicht einmal an die Lektüre hingegeben. Was tat er eigentlich? Er las ganz einfach. Er las aufmerksam. Er las genau. Er las sogar in höchster Konzentration. Aber er las kritisch. Er sah aus, als wisse er in jedem Moment, was er da lese. Seine Arme hingen herab, aber sie schienen bereit, jeden Augenblick einen Finger auf den Text zu führen, der zeigen würde: das ist nicht wahr. Das glaube ich nicht. Er ist anders, dachte Gregor, er ist ganz anders. Er ist leichter, als wir waren, vogelgleicher. Er sieht aus wie einer, der jederzeit das Buch zuklappen kann und aufstehen, um etwas ganz anderes zu tun.
Liest er denn nicht einen seiner heiligen Texte, dachte Gregor. Ist er denn nicht wie ein junger Mönch? Kann man das: ein junger Mönch sein und sich nicht von den Texten überwältigen lassen? Die Kutte nehmen und trotzdem frei bleiben? Nach den Regeln leben, ohne den Geist zu binden?
Gregor richtete sich auf. Er war verwirrt. Er beobachtete den jungen Mann, der weiterlas, als sei nichts geschehen. Es war aber etwas geschehen, dachte Gregor. Ich habe einen gesehen, der ohne Auftrag lebt. Einen, der lesen kann  und dennoch aufstehen und fortgehen. Er blickte mit einer Art von Neid auf die Figur."

Alfred Andersch, Sansibar oder der letzte Grund. Diogenes Verlag 1972. Aus dem Kapitel ‚Gregor‘ (S. 42-45) als Gregor den lesenden Klosterschüler betrachtet. 



Gregor, ein Funktionär der kommunistischen Partei, nimmt in der Skulptur eines lesenden Klosterschülers sein jüngeres Selbst wahr, einen Studenten der Lenin-Akademie in Moskau[1], der gläubig die Lehren aufsaugte, die ihm dargeboten wurden. In einem Moment der Erkenntnis bemerkt er jedoch einen entscheidenden Unterschied, der ihm hilft, sich neu zu orientieren und einen neuen Lebenssinn zu finden. Während er selbst sich als Student mit dem Inhalt der Bücher identifizierte, erscheint ihm der kleine Mönch als ein kritischer Leser, der sich zwar einerseits konzentriert mit seiner Lektüre beschäftigt, aber sich gleichzeitig auch die Fähigkeit bewahrt hat, zu ihrem Inhalt eine Distanz einzunehmen, mit etwas nicht einverstanden zu sein, Dinge zu hinterfragen. Diese Haltung der inneren Freiheit wird möglich durch Gelassenheit und einen Sinn für Humor, der für den Betrachter in den Augenwinkeln der Figur wahrnehmbar ist.[2] 
Als junger Mann hat Gregor, einem Mönch nicht unähnlich, sein Leben in den Dienst seiner Partei gestellt, die nun Widerstand gegen das Naziregime in Deutschland organisiert. Schon vor der Begegnung mit der Skulptur hat er sich jedoch mit Fluchtgedanken – Flucht aus Nazideutschland und aus der kommunistischen Partei, für die er arbeitet - befasst, hauptsächlich weil er Angst hat, aber auch weil er Abstand braucht, um sich über seinen eigenen Standpunkt klar zu werden.         
Und ich, was will ich? Ich will aus meinem Winkel raus und irgendwohin, wo man noch nachdenken kann, darüber nachdenken, ob es noch einen Sinn hat, an die Partei zu glauben. (49)

Vor dem Hintergrund seiner inneren Ablösung von der kommunistischen Partei ist Gregor sofort klar, warum die Nazis die Skulptur des jungen Mönchs aus der Kirche entfernen wollen. Kritisches Lesen und Denken waren unerwünscht, weil sie ihre Ideologie und damit ihre Herrschaft in Frage stellen würden.[3] Für Gregor wird der lesende Mönch deshalb zur Allegorie selbstständigen Denkens[4] und damit auch zum Symbol des Widerstands gegen ‚die Anderen‘ - die Bezeichnung des Autors für die Nationalsozialisten. Daher erklärt Gregor die Rettung der Figur zu seinem neuen Auftrag. Er glaubt, dass mit ihr auch die durch sie personifizierte Haltung über die Zeit gerettet wird. Dies ist für ihn so wichtig, dass er bereit ist, sein Leben zu riskieren.[5]
Ein Begriff, der immer wieder in Bezug auf den Klosterschüler auftaucht, ist Aufmerksamkeit, im Sinne eines genauen, wachen Lesens, das für eine Auseinandersetzung mit dem Text wesentlich ist. Dies kann bis zu einem dekonstruierenden Lesen gehen. Der Dekonstruktivismus ist eine literaturwissenschaftliche Methode der Postmoderne, die sachgemäß angewandt zu nachvollziehbaren Erkenntnissen und Einsichten führt. Eine dekonstruktivistische Interpretation hat zwar den Anspruch ans Tageslicht zu bringen, was der Text gar nicht von sich selbst weiß; dabei orientiert und versichert sie sich jedoch immer am Text.[6] Dekonstruktivismus bedeutet also nicht Legitimation von Beliebigkeit oder von Kritik im Dienst von Interessen oder einer Ideologie. Wie andere Wissenschaftler reflektieren auch Dekonstruktivisten ihre Methode und ihre Voraussetzungen.
‚Trotzdem frei bleiben‘ erfordert eine große Anstrengung angesichts der hitzigen öffentlichen Debatten. Das Ideal ‚ohne den Geist zu binden‘ lässt sich auch auf das Verständnis der Welt um uns herum beziehen, die Welt als den Text, den wir jeden Tag lesen und deuten. Die Skulptur des lesenden Mönchs kann uns daran erinnern, innezuhalten und nachzudenken, um in Ruhe unsere eigene Meinung bilden zu können.


[1] Die Studenten an der Lenin-Akademie werden explizit mit Mönchen verglichen, auch dahingehend, dass sie einen neuen Namen annahmen. (24)
[2] Das Modell für Anderschs jungen Mönch ist die Skulptur Lesender Klosterschüler von Ernst Barlach (1870–1938), 1930, Holz (Eiche), Höhe: 114,8 cm. Ein schönes Foto ist im Internet unter www.landesmuseum-mecklenburg.de/exponate/Ernst-Barlach-Stiftung-Guestrow/ernst-barlach-lesender-klosterschueler/ zu finden.
[3] Der Zusammenhang zwischen selbstständigem Denken und Befreiung wird von Kant in seiner berühmten Definition von Aufklärung hergestellt. ‚Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.‘ Immanuel Kant: ‚Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?‘ Berlinische Monatsschrift, Dezember 1784.
[4] Vgl. die Definitionen in Jeremy Tambling, Allegory, London: Routledge, 2009. ‚Ich setze voraus, dass die Personifikation eine allegorische Darstellungsweise ist, die komplexen, abstrakten Begriffen eine konkrete Form gibt, an der sie erkannt werden können.‘ (5) und ‚Durch Personifikation wird einem Objekt, oder einer Naturerscheinung oder sogar einem von Menschen gemachten Gegenstand, wie zum Beispiel einer Statue, eine Maske oder ein Gesicht und folglich auch eine Stimme und eine Persönlichkeit zugeschrieben.‘ (43) [meine Übersetzung].
[5] Erich Fromm hebt den Unterschied zu dem von den Nazis verherrlichten Opfer hervor. ‚Es gehört zu den tragischen Seiten unseres Lebens, dass die Erfordernisse unseres körperlichen Selbst und die Ziele unseres seelischen Selbst miteinander in Widerstreit geraten können, dass wir tatsächlich unser körperliches Selbst opfern müssen, um die Integrität unseres spirituellen Selbst zu wahren. Es wird dies immer ein tragisches Opfer sein […] Dort [im Faschismus] ist das Opfer nicht der höchste Preis den der Mensch unter Umständen zahlen muss, um sein Selbst zu behaupten, sondern es ist Selbstzweck. Dieses masochistische Opfer sieht die Erfüllung des Lebens in dessen Negierung, in der Auslöschung des Selbst.‘ Die Furcht vor der Freiheit (1941), Kapitel 7 ‚Freiheit und Demokratie‘.
[6] Eine gute Einführung ist das Kapitel ‘Structuralism and post-structuralism - some practical differences’ in Barry, Peter Beginning Theory. An introduction to literary and cultural theory, Manchester and New York: Manchester University Press, 2002

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