"Dann wurde er […] sich der Anwesenheit der Figur bewußt. Sie saß klein auf
einem niedrigen Sockel aus Metall, zu Füßen des Pfeilers schräg gegenüber. Sie
war aus Holz geschnitzt, das nicht hell und nicht dunkel war, sondern einfach
braun. Gregor näherte sich ihr. Die Figur stellte einen jungen Mann dar, der in
einem Buch las, das auf seinen Knien lag. Der junge Mann trug ein langes
Gewand, ein Mönchsgewand, nein, ein Gewand, das noch einfacher war als das
eines Mönchs: einen langen Kittel. Unter dem Kittel kamen seine nackten Füße
hervor. Seine beiden Arme hingen herab. Auch seine Haare hingen herab, glatt,
zu beiden Seiten der Stirn, die Ohren und die Schläfen verdeckend. […]
Wie alt ist er? So alt wie wir waren, als wir genauso lasen. Achtzehn,
höchstens achtzehn. Gregor bückte sich tiefer, um dem jungen Mann gänzlich ins
Gesicht sehen zu können. Er trägt unser Gesicht, dachte er, das Gesicht unserer
Jugend, das Gesicht der Jugend, die ausgewählt ist, die Texte zu lesen, auf die
es ankommt. Aber dann bemerkte er auf einmal, daß der junge Mann ganz anders war. Er war gar
nicht versunken. Er war nicht einmal an die Lektüre hingegeben. Was tat er eigentlich?
Er las ganz einfach. Er las aufmerksam. Er las genau. Er las sogar in höchster
Konzentration. Aber er las kritisch. Er sah aus, als wisse er in jedem Moment,
was er da lese. Seine Arme hingen herab, aber sie schienen bereit, jeden
Augenblick einen Finger auf den Text zu führen, der zeigen würde: das ist nicht
wahr. Das glaube ich nicht. Er ist anders, dachte Gregor, er ist ganz anders.
Er ist leichter, als wir waren, vogelgleicher. Er sieht aus wie einer, der
jederzeit das Buch zuklappen kann und aufstehen, um etwas ganz anderes zu tun.
Liest er denn nicht einen seiner heiligen Texte, dachte Gregor. Ist er denn
nicht wie ein junger Mönch? Kann man das: ein junger Mönch sein und sich nicht
von den Texten überwältigen lassen? Die Kutte nehmen und trotzdem frei bleiben?
Nach den Regeln leben, ohne den Geist zu binden?
Gregor richtete sich auf. Er war verwirrt. Er beobachtete den jungen Mann,
der weiterlas, als sei nichts geschehen. Es war aber etwas geschehen, dachte
Gregor. Ich habe einen gesehen, der ohne Auftrag lebt. Einen, der lesen
kann und dennoch aufstehen und
fortgehen. Er blickte mit einer Art von Neid auf die Figur."
Alfred Andersch, Sansibar oder der letzte Grund. Diogenes
Verlag 1972. Aus dem Kapitel ‚Gregor‘ (S. 42-45) als Gregor den lesenden
Klosterschüler betrachtet.
Gregor, ein Funktionär der
kommunistischen Partei, nimmt in der Skulptur eines lesenden Klosterschülers
sein jüngeres Selbst wahr, einen Studenten der Lenin-Akademie in Moskau[1],
der gläubig die Lehren aufsaugte, die ihm dargeboten wurden. In einem Moment
der Erkenntnis bemerkt er jedoch
einen entscheidenden Unterschied, der ihm hilft, sich neu zu orientieren und
einen neuen Lebenssinn zu finden. Während er selbst sich als Student mit dem
Inhalt der Bücher identifizierte, erscheint ihm der kleine Mönch als ein kritischer
Leser, der sich zwar einerseits konzentriert mit seiner Lektüre beschäftigt,
aber sich gleichzeitig auch die Fähigkeit bewahrt hat, zu ihrem Inhalt eine
Distanz einzunehmen, mit etwas nicht einverstanden zu sein, Dinge zu
hinterfragen. Diese Haltung der inneren Freiheit wird möglich durch
Gelassenheit und einen Sinn für Humor, der für den Betrachter in den
Augenwinkeln der Figur wahrnehmbar ist.[2]
Als junger Mann hat Gregor, einem Mönch nicht unähnlich, sein Leben in den Dienst seiner Partei gestellt, die nun
Widerstand gegen das Naziregime in Deutschland organisiert. Schon vor der
Begegnung mit der Skulptur hat er sich jedoch mit Fluchtgedanken – Flucht aus
Nazideutschland und aus der kommunistischen Partei, für die er arbeitet -
befasst, hauptsächlich weil er Angst hat, aber auch weil er
Abstand braucht, um sich über seinen eigenen Standpunkt klar zu werden.
Und ich, was will ich? Ich will aus meinem Winkel raus
und irgendwohin, wo man noch nachdenken kann, darüber nachdenken, ob es noch
einen Sinn hat, an die Partei zu glauben. (49)
Vor dem Hintergrund seiner inneren
Ablösung von der kommunistischen Partei ist Gregor sofort klar, warum die Nazis
die Skulptur des jungen Mönchs aus der Kirche entfernen wollen. Kritisches
Lesen und Denken waren unerwünscht, weil sie ihre Ideologie und damit ihre Herrschaft in Frage stellen
würden.[3]
Für Gregor wird der lesende Mönch
deshalb zur Allegorie selbstständigen Denkens[4] und
damit auch zum Symbol des Widerstands gegen ‚die Anderen‘ - die Bezeichnung des
Autors für die Nationalsozialisten. Daher erklärt Gregor die Rettung der Figur
zu seinem neuen Auftrag. Er glaubt, dass mit ihr auch die durch sie
personifizierte Haltung über die Zeit gerettet wird. Dies ist für ihn so
wichtig, dass er bereit ist, sein Leben zu riskieren.[5]
Ein Begriff, der immer wieder in Bezug
auf den Klosterschüler auftaucht, ist Aufmerksamkeit, im Sinne eines genauen,
wachen Lesens, das für eine Auseinandersetzung mit dem Text wesentlich ist.
Dies kann bis zu einem dekonstruierenden Lesen gehen. Der Dekonstruktivismus
ist eine literaturwissenschaftliche Methode der Postmoderne, die sachgemäß
angewandt zu nachvollziehbaren Erkenntnissen und Einsichten führt. Eine
dekonstruktivistische Interpretation hat zwar den Anspruch ans Tageslicht zu
bringen, was der Text gar nicht von sich selbst weiß; dabei orientiert und
versichert sie sich jedoch immer am Text.[6]
Dekonstruktivismus bedeutet also nicht Legitimation von Beliebigkeit oder von
Kritik im Dienst von Interessen oder einer Ideologie. Wie andere
Wissenschaftler reflektieren auch Dekonstruktivisten ihre Methode und ihre
Voraussetzungen.
‚Trotzdem frei bleiben‘ erfordert eine große Anstrengung angesichts der
hitzigen öffentlichen Debatten. Das Ideal ‚ohne den Geist zu binden‘ lässt sich
auch auf das Verständnis der Welt um uns herum beziehen, die Welt als den Text, den wir jeden Tag lesen und deuten. Die
Skulptur des lesenden Mönchs kann uns daran erinnern, innezuhalten und
nachzudenken, um in Ruhe unsere eigene Meinung bilden zu können.
[1] Die Studenten an der Lenin-Akademie werden explizit mit
Mönchen verglichen, auch dahingehend, dass sie einen neuen Namen annahmen. (24)
[2] Das Modell für Anderschs jungen Mönch ist die Skulptur Lesender Klosterschüler von
Ernst Barlach (1870–1938), 1930, Holz (Eiche), Höhe: 114,8 cm. Ein schönes Foto
ist im Internet unter www.landesmuseum-mecklenburg.de/exponate/Ernst-Barlach-Stiftung-Guestrow/ernst-barlach-lesender-klosterschueler/ zu
finden.
[3] Der Zusammenhang
zwischen selbstständigem Denken und Befreiung wird von Kant in seiner berühmten
Definition von Aufklärung hergestellt. ‚Aufklärung ist der Ausgang des Menschen
aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist
das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.‘
Immanuel Kant: ‚Beantwortung der
Frage: Was ist Aufklärung?‘ Berlinische Monatsschrift, Dezember 1784.
[4] Vgl. die
Definitionen in Jeremy Tambling, Allegory,
London: Routledge, 2009. ‚Ich setze voraus,
dass die Personifikation eine allegorische Darstellungsweise ist, die
komplexen, abstrakten Begriffen eine konkrete Form gibt, an der sie erkannt
werden können.‘ (5) und ‚Durch Personifikation wird einem Objekt, oder einer
Naturerscheinung oder sogar einem von Menschen gemachten Gegenstand, wie zum
Beispiel einer Statue, eine Maske oder ein Gesicht und folglich auch eine
Stimme und eine Persönlichkeit zugeschrieben.‘ (43) [meine Übersetzung].
[5] Erich Fromm hebt den Unterschied zu dem von den Nazis
verherrlichten Opfer hervor. ‚Es gehört zu den tragischen Seiten unseres
Lebens, dass die Erfordernisse unseres körperlichen Selbst und die Ziele
unseres seelischen Selbst miteinander in Widerstreit geraten können, dass wir
tatsächlich unser körperliches Selbst opfern müssen, um die Integrität unseres
spirituellen Selbst zu wahren. Es wird dies immer ein tragisches Opfer sein […]
Dort [im Faschismus] ist das Opfer
nicht der höchste Preis den der Mensch unter Umständen zahlen muss, um sein
Selbst zu behaupten, sondern es ist Selbstzweck. Dieses masochistische Opfer
sieht die Erfüllung des Lebens in dessen Negierung, in der Auslöschung des
Selbst.‘ Die Furcht vor der
Freiheit (1941), Kapitel 7 ‚Freiheit und Demokratie‘.
[6] Eine gute Einführung ist das Kapitel ‘Structuralism and
post-structuralism - some practical differences’ in Barry, Peter Beginning Theory. An introduction to literary and cultural theory, Manchester and
New York: Manchester University Press, 2002
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