Samstag, 14. Januar 2017

Exposé zu 'Wintermärchen 2016'

Exposé             Wintermärchen 2016

'Wintermärchen 2016' entsprang dem Wunsch, den immer stärker werdenden populistischen und autoritären Bewegungen in ganz Europa, insbesondere aber in Deutschland, ein Protestlied entgegen zu stellen.
Eine wichtige Quelle der Inspiration war Heinrich Heines 'Deutschland ein Wintermärchen' von 1844. Die Entstehungszeit fällt in den Vormärz (1830-1848), eine Periode der politischen Unterdrückung und Verfolgung. Heines Werke wurden entweder zensiert oder verboten und er selbst lebte ab 1830 im Exil in Frankreich.
Der Titel 'Deutschland ein Wintermärchen' spielt auf Shakespeares A Winter´s Tale (1610) an. In diesem Drama verliert ein König alles was er liebt und schätzt durch seine tyrannische Herrschaft und gewinnt sein Glück erst nach einer langen Zeit des Leidens und der Reue wieder. In Heines Gedicht entspricht diesem glücklichen Ende die vom Erzähler entworfene Utopie eines Lebens ohne Not in einer liberalen Gesellschaft. Der Taumel der Begeisterung im zweiten Teil des ersten Kapitels ist Ausdruck eines Optimismus, der durch die von der Julirevolution in Frankreich 1830 inspirierten Freiheitsbewegungen in ganz Europa genährt wurde.
Im Unterschied zu seinen Quellen beschreibt 'Wintermärchen 2016' nach dem Vorbild des mittelalterlichen Genres der 'Klage' die gegenwärtige Situation, in der die etablierte liberale Gesellschaft basierend auf einem demokratischen Rechtsstaat in Frage gestellt und durch populistische Bewegungen bedroht wird. Als Ursache für den großen Zulauf zu diesen Bewegungen macht der Sprecher ein allgegenwärtiges Gefühl der Angst - vor Zuwanderung, Globalisierung und Verarmung - aus, das durch Agitatoren geschürt, sich wie eine Epidemie in Teilen der Bevölkerung verbreitet. Dies wiederum versetzt ihn in einen Zustand großer Besorgnis und Zukunftsangst.
Analog zu Dantes Divina Commedia (1307-1321) also nach dem Muster einer Traumerzählung, erscheint dem Sprecher ein Ratgeber in der Gestalt des Heinrich Heine aus dem ersten Kapitel des Wintermärchens. Dieser erinnert ihn daran sich ein eigenes Urteil zu bilden und bezieht sich dabei auf die Maxime der Aufklärung: 'Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.' (Immanuel Kant, 1784).1 Mit seinem Rat den demokratischen Rechtsstaat nie aufzugeben ('Freiheit ..., die nur durchs Gesetz geschaffen'), da nur diese Staatsform die Rechte der Bürger garantiert, spricht der Heinrich Heine der Vision aus der Erfahrung des biographischen Heine, zieht aber auch die zwingende und schmerzhafte Lehre aus den Diktaturen des 20. Jahrhunderts, insbesondere in Deutschland, in Österreich, den von Nazi-Deutschland zwischen 1939 und 1945 besetzten Ländern und in den kommunistischen Diktaturen Osteuropas und der Sowjetunion. Als Kind einer anderen Zeit ist es dabei nicht seine Aufgabe, die Situation in ihrer Komplexität zu analysieren, sondern als Träger der Vision und moralische Instanz eine Besinnung auf das Wesentliche anzustoßen.
Aufs neue sensibilisiert und bestätigt in seiner Überzeugung verspürt der Sprecher am Ende den Mut für den demokratischen Rechtsstaat zu kämpfen. Die Fähigkeit, eine Situation aus einer anderen Perspektive zu betrachten, ist also ein essenzieller Schritt dazu sich ein unabhängigeres eigenes Urteil zu bilden.2 Lässt man sich dagegen vom Sog der Massen mitreißen, gibt man seine Selbstbestimmung im Austausch gegen ein trügerisches Gemeinschaftsgefühl auf.
Indem das Gedicht sich in die Tradition großer Autoren der europäischen Literatur stellt, die für christlich humanistische Werte stehen, soll die Vereinnahmung der abendländischen Kultur durch identitäre Bewegungen entschieden zurückgewiesen werden.
 
1Vgl. den inspirierender Artikel von Michael Hampe 'Von wahrhaftigen Bürgern', Die Zeit, 14.7.2016, S. 43


2In seinem ausgesprochen interessanten Artikel über die 'Forschung zur Gruppenidentität und Wahrnehmung' hebt Martin Kolmar hervor, dass Distanz zu den eigenen Gefühlen die Voraussetzung für universelle Menschenrechte ist. Martin Kolmar, 'Wider das Bauchgefühl.', Die Zeit, 21.12.2016, S. 33

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