Exposé
Wintermärchen 2016
'Wintermärchen
2016' entsprang dem Wunsch, den immer stärker werdenden
populistischen und autoritären Bewegungen in ganz Europa,
insbesondere aber in Deutschland, ein Protestlied entgegen zu
stellen.
Eine
wichtige Quelle der Inspiration war Heinrich Heines 'Deutschland ein
Wintermärchen' von 1844. Die Entstehungszeit fällt in den Vormärz
(1830-1848), eine Periode der politischen Unterdrückung und
Verfolgung. Heines Werke wurden entweder zensiert oder verboten und
er selbst lebte ab 1830 im Exil in Frankreich.
Der
Titel 'Deutschland ein Wintermärchen' spielt auf Shakespeares A
Winter´s Tale (1610) an. In diesem Drama verliert ein König
alles was er liebt und schätzt durch seine tyrannische Herrschaft
und gewinnt sein Glück erst nach einer langen Zeit des Leidens und
der Reue wieder. In Heines Gedicht entspricht diesem glücklichen
Ende die vom Erzähler entworfene Utopie eines Lebens ohne Not in
einer liberalen Gesellschaft. Der Taumel der Begeisterung im zweiten
Teil des ersten Kapitels ist Ausdruck eines Optimismus, der durch die
von der Julirevolution in Frankreich 1830 inspirierten
Freiheitsbewegungen in ganz Europa genährt wurde.
Im
Unterschied zu seinen Quellen beschreibt 'Wintermärchen 2016' nach
dem Vorbild des mittelalterlichen Genres der 'Klage' die gegenwärtige
Situation, in der die etablierte liberale Gesellschaft basierend auf
einem demokratischen Rechtsstaat in Frage gestellt und durch
populistische Bewegungen bedroht wird. Als
Ursache für den großen Zulauf zu diesen
Bewegungen macht der
Sprecher
ein allgegenwärtiges Gefühl der Angst - vor
Zuwanderung, Globalisierung
und Verarmung -
aus, das durch Agitatoren geschürt, sich wie
eine Epidemie in
Teilen der
Bevölkerung verbreitet.
Dies wiederum versetzt ihn
in einen Zustand großer Besorgnis und Zukunftsangst.
Analog
zu Dantes Divina Commedia (1307-1321)
also nach dem Muster einer Traumerzählung, erscheint dem
Sprecher ein Ratgeber in der Gestalt des Heinrich Heine aus dem
ersten Kapitel des Wintermärchens. Dieser
erinnert ihn daran sich ein
eigenes Urteil zu bilden und bezieht sich dabei auf
die Maxime der Aufklärung: 'Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes
zu bedienen.' (Immanuel Kant, 1784).1
Mit seinem Rat den demokratischen Rechtsstaat nie aufzugeben
('Freiheit
..., die
nur durchs Gesetz geschaffen'),
da nur diese Staatsform die Rechte der Bürger garantiert, spricht
der Heinrich Heine der Vision aus der Erfahrung des biographischen
Heine, zieht aber auch die zwingende und schmerzhafte Lehre aus den
Diktaturen des 20. Jahrhunderts, insbesondere in Deutschland, in
Österreich, den von Nazi-Deutschland zwischen 1939 und 1945
besetzten Ländern und in den kommunistischen Diktaturen Osteuropas
und der Sowjetunion. Als Kind einer anderen Zeit ist es dabei nicht
seine Aufgabe, die Situation in ihrer Komplexität zu analysieren,
sondern als Träger der Vision und moralische Instanz eine Besinnung
auf das Wesentliche anzustoßen.
Aufs
neue sensibilisiert und
bestätigt in seiner Überzeugung verspürt der
Sprecher am
Ende den Mut für den demokratischen Rechtsstaat zu kämpfen.
Die Fähigkeit, eine
Situation aus einer anderen Perspektive zu betrachten, ist
also
ein essenzieller Schritt dazu
sich ein unabhängigeres eigenes Urteil zu bilden.2
Lässt man
sich dagegen vom
Sog der Massen mitreißen, gibt man seine Selbstbestimmung im
Austausch gegen ein
trügerisches
Gemeinschaftsgefühl auf.
Indem
das Gedicht sich in die Tradition großer Autoren der europäischen
Literatur stellt, die
für christlich humanistische Werte stehen, soll
die Vereinnahmung der abendländischen Kultur durch identitäre
Bewegungen entschieden
zurückgewiesen werden.
1Vgl.
den inspirierender Artikel von Michael Hampe 'Von wahrhaftigen
Bürgern', Die Zeit, 14.7.2016, S. 43
2In
seinem ausgesprochen interessanten Artikel über die 'Forschung zur
Gruppenidentität und Wahrnehmung' hebt Martin Kolmar hervor, dass
Distanz zu den eigenen Gefühlen die Voraussetzung für universelle
Menschenrechte ist. Martin Kolmar, 'Wider das Bauchgefühl.', Die
Zeit, 21.12.2016, S. 33
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