Freitag, 13. Januar 2017

Exposé zum Gedicht 'Halbzeit'

Exposé zum Gedicht 'Halbzeit'
Das Gedicht ist eine spielerische aber deswegen nicht weniger ernsthafte Auseinandersetzung mit der Frage, was bei Menschen zu der Entscheidung beitragen könnte sich fremdenfeindlichen Bewegungen anzuschließen. Es veranschaulicht auf der zwischenmenschlichen Ebene Zusammenhänge, die auf der gesellschaftliche Ebene wirksam sein könnten und hat damit allegorischen Charakter.
In dem Gedicht ist Entfremdung von ihrem Mann der entscheidende Auslöser für die Frau sich der rechtsnationalen Gedanken- und Gefühlswelt zuzuwenden, die sie aber nicht mit allen ihren Konsequenzen erfasst. Die Entfremdung wird auf einen Neuanfang des Mannes zurückgeführt, der plötzlich sein bisheriges Leben in Frage stellt. Die Wandlung des Mannes steht auch für die gesellschaftlichen Veränderungen im späten 20. und beginnenden 21. Jahrhundert, an denen viele Menschen, symbolisiert durch die Frau, leiden.
Wenn man sie als Repräsentantin einer ganzen gesellschaftlichen Gruppe sieht, ist ihre Wandlung am Ende, ihr Entsetzen über sich selbst, als sie mit den Konsequenzen der Weltanschauung konfrontiert wird, der sie sich zugewandt hatte, eher utopisch. Eine solche Entwicklung kann nur jeder Einzelne für sich erfahren, wenn er sich die Fähigkeit zur Einfühlung in ein Einzelschicksal bewahrt hat und seine/ihre Gefühle und Handlungen auch reflektiert. So hat die Frau in 'Halbzeit' zwar mit dem Rechtspopulismus sympathisiert, ist aber noch nicht zur Fanatikerin geworden, die nicht mehr zur Einsicht fähig ist.1
Ob das Paar diese zweite Chance wahrnimmt und was es aus ihr macht, bleibt offen, denn der Mann – die liberale, demokratische, kapitalistische Gesellschaft – erscheint mindestens gleichgültig, wenn nicht gar abweisend. Nur Fußball führt die Partner immer wieder zusammen, wenn auch hauptsächlich im Sinne eines Orts der Begegnung, der für den Leser die unterschiedlichen Gefühls- und Erfahrungswelten der Partner reflektiert.

Die Strophenform verweist auf das Stabat Mater, ein Gedicht in 10 Strophen eines unbekannten Verfassers in lateinischer Sprache aus der Zeit zwischen 1200 und 1300. Es ist in etwas abgewandelter Form Teil der Liturgie der katholischen Kirche und darüber hinaus bekannt in Vertonungen einiger Komponisten2. Der Sprecher betrachtet Maria, wie sie trauernd am Kreuz ihres Sohnes Jesu steht und ist tief gerührt von ihrem Leiden. Dann (ab der 5. Strophe) wendet sich der Sprecher im Gebet an Maria. Dadurch gewinnt das Gedicht einen noch höheren Grad an Innigkeit und Eindringlichkeit. Er bittet sie zum einen um die Fähigkeit zur Einfühlung in ihre Leiden, um Jesu genauso sehr lieben zu lernen wie sie, die Mutter, die ihn am meisten liebt. Zum anderen wünscht er sich Jesu Leiden mit zu tragen um durch Reue und Buße an Vergebung und Erlösung teilzuhaben zu dürfen.
Das Schlüsselkonzept des Stabat Mater, die Empathie, das Sichhineinversetzen in einen anderen, ist im Zusammenleben von Menschen in einer Gesellschaft Voraussetzung für Respekt und Toleranz.
Wie der Sprecher im Stabat Mater kann sich die Frau in dem Gedicht 'Halbzeit' in das Leiden ihrer Mitmenschen einfühlen und dadurch zu Selbsterkenntnis und Reue gelangen.
Die Analogie zum Stabat Mater soll sensibel machen für das Leiden im Kontext einer liberalen Gesellschaft im 20. Jahrhundert – das Erleiden von Entfremdung und Gleichgültigkeit, aber auch das Leiden am Hass in der Welt und im Entsetzen über sich selbst. Nur durch gegenseitiges Verständnis und Toleranz kann die tiefe Spaltung der liberalen westlichen Gesellschaften überwunden werden.3
Gleichzeitig weist das Verhalten des Mannes in 'Halbzeit' darauf hin, dass von seiten der Politik dringend ein großer Handlungsbedarf besteht um die Ursachen der Entfremdung der Menschen von Gesellschaft und Staat zu bekämpfen.
1In Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus. Imperialismus, totale Herrschaft, 1951,1973, 13. Auflage 2009. charakterisiert Hannah Arndt den Fanatiker wie folgt: "Solange aber die Bewegung hält und innerhalb ihres organisatorischen Rahmens ist das fanatisierte Mitglied weder von Erfahrung noch von Argumenten zu erreichen; es hat sich so sehr mit der Bewegung identifiziert, geht den Bewegungsgesetzen so völlig konform, dass es scheint, als sei die Fähigkeit, Erfahrungen zu machen, überhaupt vernichtet, ... ." (Arendt, S. 663)
2Der Artikel unter 'de.wikipedia.org/wiki/Stabat_mater' zeigt eine Synopse zweier lateinischer und zweier deutscher Texte und enthält eine Liste der musikalischen 'Stabat Mater'.
3Die Schauspielerin Meryl Streep veranschaulichte eindrücklich die Bedeutung von Empathie für das friedliche Zusammenleben in einer Gesellschaft in ihrer Dankesrede bei der Verleihung des Golden Globe für ihr Lebenswerk am 8. Januar 2017, z.B. www.youtube.com/watch?v=NxyGmyEby40,
Transkription: www.harpersbazaar.com/culture/film-tv/news/a19828/meryl-street-golden-globes-speech-transcript/

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