Dienstag, 28. Februar 2017

Wintermärchen 2016 (Gedicht)



Nel mezzo del cammin di nostra vita
mi ritrovai per una selva oscura
ché la diritta via era smarrita

In der Mitte meines Lebens geschah es einmal,
dass ich mich in einem dunklen Wald verlief.

Dante Alighieri (1265-1321), Divina Commedia (1307-1321)

An einem nebligen Sonntag im Herbst
geh ich im Wald spazieren,
die Bäume stehen so schwarz und kahl,
die feucht-kalte Luft lässt mich frieren.

Und meine Gedanken kreisen besorgt
um die Zukunft unserer Kinder,
wie sie mal leben auf dieser Welt,
ob sie ihr Glück wohl finden?

Da hör´ ich voll leiser Ironie
eine Stimme an meiner Seite:
Wozu denn diese Traurigkeit,
du hast doch Grund zur Freude.

Du lebst in einem blühenden Land,
der Krieg ist schon lange Geschichte,
ihr seid vertreten im Parlament,
habt Freiheit und Menschenrechte.“

Ach Fremder“, klag ich, „man schätzt dies nicht mehr,
die Menschen rebellieren,
Die Angst geht um in unserem Land,
wir könnten alles verlieren.

Und Brandstifter zündeln auch hierzulande
sie stacheln den Volkszorn an.
Sie schüren den Hass auf alles Fremde
Gewalt ist das Mittel der Wahl.

Die Angst weckt die Sehnsucht nach Identität
nach charismatischer Führung,
nach etwas Größerem als man selbst,
nach nationalistischer Rührung.


Man empfindet Verehrung für Autokraten,
die besessen von ihrer Macht,
die Gewaltenteilung mit Füßen treten
die Pressefreiheit verlachen.

Dies alte Lied, dies traurige Lied,
O Fremder, muss ich dir singen.
Aus Angst gerät in große Gefahr
das Werk von Generationen.“

Er hört sich schweigend mein Klagelied an,
und nun umfängt uns die Stille,
die Kälte dringt durch die Kleidung ein
mich fröstelt in der Seele.

Dann spricht er mit freundlicher, warmer Stimme:
Ich kann dein Entsetzen verstehen.
Europa ist in großer Gefahr,
nun müsst ihr zusammen stehen,

denn Autokraten verachten das Recht,
streben nur nach Macht und Gewinnen.
Sie öffnen der Willkür Tür und Tor,
das Volk hat ihnen zu dienen.

Wer ihnen nicht passt, wird ausgemerzt,
sie werden die Medien zensieren.
Dann fürchtest du selbst den besten Freund,
er könnte dich denunzieren.

Vertraut deshalb dem eigenen Verstand,
folgt niemals blind den Massen,
und vor allem gebt nie die Freiheit auf,
die nur durchs Gesetz geschaffen.“

Ich spüre, dass er verschwunden ist,
doch Wärme durchströmt meine Seele.
Nun seh ich endlich wieder klar,
vergessen der Kloß in der Kehle.

Der Wald ist mir nun wieder vertraut,
die Umgebung wird heller und lichter,
ein Stückchen Himmel ist zu sehen,
für das ich kämpfen möchte.

Gudrun Rogge-Wiest, Dezember 2016

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen