Samstag, 22. Juni 2019

Buchempfehlung: Petra Köpping, Integriert doch erstmal uns! Eine Streitschrift für den Osten


Die Autorin ist sächsische Staatsministerin für Gleichstellung und Integration.
In einer Rede im Oktober 2016 forderte sie erstmals die Aufarbeitung der Nachwendezeit.

In ihrer Streitschrift „Integriert doch erstmal uns!“ präsentiert Petra Köpping eine Erklärung dafür, dass Ost- und Westdeutschland auch nach 30 Jahren noch nicht zusammengewachsen sind, dass sich nach der anfänglichen Begeisterung für die Wiedervereinigung ein Graben aufgetan hat, der mit Beginn der Pegidademonstrationen und dem Erstarken der AfD in den neuen Bundesländern eher noch weiter und tiefer wurde. Dazu blickt sie zurück auf die Zeit nach dem Mauerfall 1989 und auf den Prozess des Anschlusses der neuen Bundesländer an die Bundesrepublik, insbesondere das Wirken der Treuhandanstalt.

Bedauerlicherweise könnte der Titel des Buchs viele Leser, insbesondere in Westdeutschland, unnötig abschrecken, da er ins rechtspopulistische Lager mit seiner Fremdenfeindlichkeit verweist. Diese Auslegung erweist sich aber als falsche Fährte, denn der Titel zitiert lediglich Gesprächspartner der Autorin, und beim Lesen wird schnell deutlich, dass es ihr fern liegt Migranten und Ostdeutsche gegeneinander auszuspielen. Das eigentliche Ziel ihrer Streitschrift ist es das gegenseitige Verständnis von Ost- und Westdeutschen zu verbessern durch eine wissenschaftliche Aufarbeitung der Nachwendezeit, die sie nachdrücklich fordert.

Streitschrift ist das Buch insofern als die Autorin sich engagiert für die Anerkennung der Lebensleistung der Generation von Ostdeutschen einsetzt, deren Leben in der Nachwendezeit zerstört worden ist. Sie fordert das öffentliche Eingeständnis, dass es die Priorität der CDU-Regierung unter Helmut Kohl nach 1990 war, dass Westdeutschland keine Nachteile von der Wiedervereinigung haben sollte und für die Folgen dieser Politik. Man wollte unbedingt verhindern, dass eine Konkurrenz zu den Westfirmen entstand, hielt aber nicht nur ausländische Investoren fern, sondern auch Ostdeutsche, die sich um die Weiterführung ihrer Betriebe bemühten. Schließlich gab es keine Kontrollinstanz für die Treuhand und ihre Transaktionen, so dass die Zukunft der aufgekauften Betriebe ganz in den Händen der westlichen Käufer lag. Dabei hebt Köpping hervor, dass es positive Entwicklungen und Erfolgsgeschichten gab, leider aber auch zu viele Fälle, in denen überlebensfähige Betriebe stillgelegt wurden und viele Menschen ihre Arbeit und ihre Zukunftsperspektive verloren. Während der Strukturwandel in den Bergbauregionen des Westens durch viele Maßnahmen aufgefangen wurde, wurden die neuen Bundesländer weitgehend den Kräften des Marktes überlassen, was zu ihrer weitgehenden Deindustrialisierung führte.

Der von Köpping präsentierte Überblick über die Aspekte, die aufgearbeitet und geklärt werden müssten, ist bewegend, weil er die Menschen und ihre Schicksale in den Mittelpunkt stellt. Indem sie ihre Ausführungen durch Daten, Statistiken und Erfahrungsberichte belegt, gewinnen sie eine große Überzeugungskraft. Jeder, der die Zeit nach 1990 erlebt hat, hat ein paar besonders dramatische Geschehnisse in Erinnerung, wie z.B. die Übernahme des Kalibergwerks in Bischofferode 1993. Die besondere Leistung des Buchs liegt jedoch in einer Rekonstruktion des Gesamtzusammenhangs, die auch für nicht-akademische Leser verständlich ist, wobei die Autorin stets darum bemüht ist die Perspektiven der verschiedenen Akteure und ihre Motivation aufzuzeigen. Obwohl genug Grund dazu besteht, geht es ihr nicht darum anzuklagen sondern vorbehaltlos aufzuklären, und dadurch dem Gefühl der Entwertung, das viele Menschen in Ostdeutschland erfuhren und auch heute noch empfinden, entgegenzuwirken. Dabei fürchtet sie, dass es Rivalitäten um die Deutungshoheit über die Nachwendegeschichte geben wird.

Erst 2020 könnten sie [die Aktenbestände der Treuhand] ganz geöffnet werden, und ob das ohne Auslassungen oder Schwärzungen geschieht, ist mehr als fraglich. Natürlich müssen berechtigte Schutzinteressen gewahrt bleiben. Aber wir als Gesellschaft haben hier ein besonderes Recht auf eine umfassende Auswertung. Ich fordere daher eine vollständige Sicherung und wissenschaftliche Aufarbeitung der Treuhandakten. Ergebnisoffen und fair.
(Köpping, S. 155)

Überzeugend legt Köpping dar, dass die Anerkennung der Lebensleistung der Generation Aufbau Ost durch die Aufarbeitung der Nachwendezeit ein Gebot der Fairness ist und darüber hinaus auch im Interesse aller Deutschen liegt. Um die Erfahrungen nach 1990 zu sammeln und festzuhalten ruft sie auch die Menschen in Ostdeutschland auf selbst aktiv zu werden und lokal und regional Geschichtswerkstätten zu gründen.

Das Buch ist eine wichtige Lektüre für alle Deutschen und insbesondere für die Westdeutschen.

Petra Köpping: Integriert doch erstmal uns! Eine Streitschrift für den Osten, Ch.Links Verlag, 2018

Zum Vergleich: Rezension im Deutschlandfunk unter www.deutschlandfunkkultur.de/petra-koepping-integriert-doch-erstmal-uns-narben-auf-der.1270.de.html?dram:article_id=429285

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