Sonntag, 9. Juni 2019

Gedicht für April 2019: "Eingehüllt in graue Wolken" von Heinrich Heine (udate 2.8.2020)


 
                                      Der Mönch am Meer, Caspar David Friedrich (1808-1810)
                                      Öl auf Leinwand, 110x171,5 cm, Alte Nationalgalerie Berlin
                                      Quelle: Google Art Project, de.wikipedia.org/wiki/Der_Mönch_am_Meer


Eingehüllt in graue Wolken
von Heinrich Heine (1797-1856)
Eingehüllt in graue Wolken,
Schlafen jetzt die großen Götter,
Und ich höre, wie sie schnarchen,
Und wir haben wildes Wetter.
Wildes Wetter! Sturmeswüten
Will das arme Schiff zerschellen -
Ach, wer zügelt diese Winde
Und die herrenlosen Wellen!

Kanns nicht hindern, daß es stürmet,
Daß da dröhnen Mast und Bretter,
Und ich hüll mich in den Mantel,
Um zu schlafen wie die Götter.


                                                     Aus Nachgelesene Gedichte (1812-27)



In der griechischen Mythologie leben, lieben und streiten sich die Götter wie die Menschen, und was sie tun oder unterlassen hat eine Wirkung in der Welt. In Heines Gedicht schlafen sie, und ein heftiger Sturm kommt auf. Nur die Götter könnten ihn besänftigen, den Winden und Wellen befehlen, aber sie nehmen nicht wahr was passiert. Auch der Sprecher hüllt sich am Ende in seinen Mantel ein und legt sich schlafen. Er tut es also den Göttern gleich.  
In der zweiten Strophe macht die Steigerung von 'Wildes Wetter' zu 'Sturmeswüten', gefolgt von der Wehklage 'Ach!' und dem Ruf nach Führung 'wer zügelt diese Winde [...]', die Dramatik des Geschehens spürbar. Das Verhalten des Sprechers, dass er sich trotzdem hinlegt, verweist jedoch auf seine innere Distanz. Mit diesem Schlussbild vor Augen erhalten die Verse 'Ach, wer zügelt diese Winde/Und die herrenlosen Wellen!' nachträglich einen ironischen Unterton. Der Sprecher ist sich bewusst, dass keine wunderbare Rettung erfolgen wird.
Heines Interesse am Zeitgeschehen legt eine allegorische Deutung des Geschehens nahe.[1] Nach dem Wiener Kongress 1815 begann eine Phase der Restauration auf dem europäischen Kontinent, in der die absolute Monarchie wieder hergestellt werden sollte. Dazu wurden Reformen rückgängig gemacht und Freiheitsbestrebungen mit Hilfe der Polizei und durch Zensur unterdrückt.[2] Die Götter in Heines Gedicht entsprechen den Fürsten und Königen des 19. Jahrhunderts, das Schiff dem Staat und der Gesellschaft der damaligen Zeit. Der Sturm ist eine Metapher für die herbeigesehnte Revolution des Volks, die zu einem freiheitlich-demokratischen Verfassungsstaat führen sollte.
Das Verhältnis von Fürsten, Gesellschaftsordnung und revoltierendem Volk der allegorischen Deutung unterscheidet sich jedoch von dem zwischen den Göttern, dem Schiff und dem Sturm, welches der offensichtliche Gegenstand des Erzählens, seine initiale Bedeutung, ist. Während die Macht der Götter unangreifbar ist, steht die Macht der Fürsten auf dem Spiel, und sie können es sich eigentlich nicht leisten zu schlafen, das heißt, die Unzufriedenheit zu ignorieren und die Liberalisierung auf unbestimmte Zeit zu verschieben. Dieser Unterschied zwischen initialer und allegorischer Ebene ist ein Ironiesignal, das Kritik impliziert.
Anders als die Fürsten hat der Sprecher keinen Einfluss auf den Gang der Geschichte ('kanns nicht hindern, daß es stürmet', 3. Strophe), die Revolution wird so oder so ihren Lauf nehmen. Wenn er sich in seinen Mantel einhüllt und sich hinlegt, ist das eine Geste, die ihm der gesellschaftlichen Hierarchie nach eigentlich nicht zusteht. Er nimmt trotz seiner Machtlosigkeit die Rolle der Götter ein. Auch wenn er dem Sturm weiterhin ausgesetzt ist und verletzlich bleibt, hat der Sprecher als einfacher Mensch hier mehr Freiheit als der Fürst, was wiederum eine ironische Diskrepanz ist. Sie weist einerseits auf das Ausgeliefertsein des einzelnen Bürgers hin, andererseits auf die Möglichkeit durch gelassenes Abwarten wenigstens innere Freiheit zu leben.
Es bietet sich an, den Sprecher als Persona des Dichters Heine zu interpretieren, der Gesellschaft und Politik im damaligen Deutschland beobachtete und kommentierte. Auch wenn sich das Gedicht nicht explizit auf die zeitgenössischen Verhältnisse bezieht, verbirgt der initiale Text nur auf den ersten Blick die für Zeitgenossen leicht erschließbare allegorische Deutung und damit die Ironie und die indirekte Kritik am politischen System. Sowohl die Darstellungsweise der Allegorie als auch das Stilmittel der Ironie können damit als Schutzmantel des Autors betrachtet werden, in den er sein Gedicht und sich selbst einhüllt. Beide sind Verteidigungsstrategien gegen den Zugriff der Zensurbehörden. [3]
Während das Gedicht in verhüllter Form, also nur indirekt, Kritik zum Ausdruck bringt, verbarg Heine in vielen seiner Schriften seine Haltung nicht. Sein Schreiben richtete sich gegen den autoritären Regierungsstil der Fürsten des Deutschen Bundes, die nach dem Hambacher Fest 1832 die staatlichen Repressionen noch verschärften. Er sprach sich für einen liberal-demokratischen Verfassungsstaat aus, nahm aber eine kritische Distanz zu den radikalen Republikanern wie Ludwig Börne ein.[4] Ausschreitungen gegen Juden, die Zensur und das Erstarken anti-liberaler christlicher Kräfte in Deutschland veranlassten Heine 1831 nach Frankreich auszuwandern, wo er bis zu seinem Tod lebte.[5]
Was Revolution für die Aufständischen bedeuten kann, erfuhr Heine, der in der Zeit des Bürgerkönigtums in Frankreich nach der Julirevolution von 1830 nach Deutschland berichtete, als Demonstrationen gegen die Julimonarchie in der Folge der Cholera-Epidemie von 1832 von Regierungstruppen brutal niedergeschlagen wurden.[6]
Einerseits war er als wohlhabender Exilant, der in den Salons des gehobenen Bürgertums verkehrte, in einen schützenden Mantel eingehüllt, andererseits setzte er sich mit seinen kritischen Schriften scharfen Gegenangriffen christlich-konservativer Autoren aus. Unter anderem unternahm er es, den Franzosen Deutschland zu erklären und den Deutschen Frankreich, welches als Vorbild für freiheitliche Gesinnung galt, aber gerade deswegen im Deutschland der damaligen Zeit als Feindbild herhalten musste, so dass Hass auf die Franzosen weit verbreitet war.
Verletzlich war Heine auch aufgrund seiner Herkunft. Als Jude war er in Deutschland sowohl Diskriminierungen als auch antisemitischen Beleidigungen ausgesetzt. Sowohl als Jugendlicher in Düsseldorf 1819 als auch als Erwachsener in Hamburg 1830 erlebte er antijüdische Ausschreitungen.[7] Letztere waren mit ein Grund für sein selbstgewähltes Exil. Trotz seines politischen Engagements betrachtete sich Heine als unabhängigen Künstler, der sich nicht in den Dienst einer bestimmten Sache stellte.[8]
Neben dem Bezug auf die politische Situation seiner Zeit lässt sich Heines Gedicht allgemein als Kritik an Regierungen verstehen, die sich notwendigen, dringenden Reformen verweigern. Mit der Zeit führt die Blockade zu einem Reformstau von immer höherer Dringlichkeit, wo­durch gesellschaftliche Spannungen verschärft werden und Protestbewegungen entstehen. Das jüngste Beispiel sind die Proteste gegen die Polizeigewalt gegen Afroamerikaner und gegen systemische Diskriminierung und Rassismus in den USA.
Weltweit hat die Untätigkeit der Regierungen in Bezug auf den voranschreitenden Klimawandel gerade bei der jungen Generation Proteste ausgelöst, die im Verlauf des Jahres 2019 an Stärke zugenommen haben. Jedoch gab es bis Anfang 2020 international noch kaum verbindliche Zusagen, wie die zur Einschränkung der Klimaerwärmung dringend notwendigen Maßnahmen umgesetzt werden sollen. Es ist zu befürchten, dass die Corona-Pandemie die Bekämpfung des Klimawandels weiter stark verzögert. In Bezug auf den Klimawandel schlafen die Regierungschefs weltweit und auch viele Bürger wollen damit nicht belästigt werden. Ein böses Erwachen für alle steht bevor.


[1] Ich verwende im Folgenden Maureen Quilligans Terminologie zur Analyse von allegorischen Texten. Sie unterscheidet zwischen dem sogenannten Initialtext mit seiner initialen Bedeutung und der allegorischen Deutung des Texts. Die initiale Bedeutung ist das, was der Text dem ersten Anschein nach sagt, die allegorische das, was er zusätzlich noch und eigentlich meint. Quilligan, Maureen The Language of Allegory: Defining the Genre, Ithaca, NY [u.a.]: Cornell Univ. Pr., 1979 erklärt in Gerhard Kurz, Metapher, Allegorie, Symbol, Göttingen: Vandenhoeck, 6. Auflage, 1982/2009, 44.
[2] Rolf Hosfeld, Heinrich Heine. Die Erfindung des europäischen Intellektuellen, München: Siedler Verlag, 2014, 53.
[3] Ein Beispiel für den Gebrauch von Ironie in einer Situation extremer politischer Unterdrückung sind auch die Werke Dmitrij Schostakowitschs. In seiner fiktionalen Biographie des Komponisten schreibt Julian Barnes zur Funktion von Ironie:
‘All his life he had relied on irony. He imagined that the trait had been born in the usual place. In the gap between how we imagine, or suppose, or hope life will turn out, and the way it actually does. So irony becomes a defence of the self and the soul, it lets you breathe on a day-to-day basis.’ The Noise of Time, Chapter 3.
[4] Rolf Hosfeld, Heinrich Heine, 278
[5] Hosfeld, 224-6.
[6] Hosfeld, 272.
[7] Hosfeld, 48 und 224
[8] Hosfeld, 253.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen