nach Gerhard Kurz Metapher,
Allegorie, Symbol, Göttingen:
Vandenhoeck, 1982, 6. Auflage 2009
Eine Allegorie ist kein eigenes Genre, sondern ein an erzählende
oder beschreibende Texte gebundener Darstellungsmodus. Neben einem
ersten, eher offensichtlichen Gegenstand des Erzählens oder
Beschreibens (initiale Bedeutung)1
verweisen diese Texte noch auf eine zweite, allegorische Bedeutung
wie es durch die Etymologie des Wortes Allegorie, zusammengesetzt aus
griechisch άllon
und agoreúein
– „anderes im öffentlichen Sprechen mit-sagen und
‚eigentlich‘ machen“ (Menke, S. 117) – angedeutet
wird2.
'Die Allegorie sagt sehr wohl, was sie meint – sie sagt es eben
direkt und indirekt. Sie meint, was sie sagt [...], und sie meint
damit und dadurch noch etwas anderes [...], auf das es vor allem
ankommen kann. S. 38
Allegorische Texte enthalten Schlüsselwörter, Anspielungen auf oder
indirekte Zitate aus einem Praetext3,
einem Diskurs4
oder chronologisch früheren Text, die die Leser zur
(Re-)Konstruktion einer allegorischen Bedeutung anregen (S. 35) -
Rekonstruktion, weil die allegorische Bedeutung im Text auf der
Signifikantenebene angelegt ist mit der Erwartung, dass die Leser die
gegebenen Hinweise verbinden und mit Informationen aus dem Praetext
ergänzen können.
Dabei
muss die
initiale
Bedeutung nicht
vollständig hinter der allegorischen Bedeutung verschwinden, sondern
behält einen Eigenwert (S. 34).
'die initiale Bedeutung wird als eigenständige aufgebaut und in
die allegorische aufgelöst, ohne indes ihre (relative)
Eigenständigkeit ganz aufzugeben.' S. 34
Die
Bezüge können im Text auch
explizit
ausformuliert (explikative Allegorie) statt
nur
angedeutet (implikative Allegorie) sein. In
diesem Fall verliert die initiale Bedeutung an Relevanz. Dies trifft z.B. für Reinhard Meys Lied "Das Narrenschiff" zu.
Die Kenntnis des der Allegorie zugrunde liegenden Praetextes durch
die Leser wird vorausgesetzt.
Der Praetext ist die
vorausgehende und vorausgesetzte Bedeutung,
das schon Gesagte, Bekannte, das Gewusste und Erinnerbare. S.
45
Der allegorische Text holt den Praetext in die Gegenwart des Lesers.
Er stellt sich dadurch in eine kulturgeschichtliche Tradition,
wodurch er eine Tiefendimension gewinnt (S. 69). Der Prätext wird
auf diese Weise zum Medium, durch das das im allegorischen Text
Erzählte reflektiert wird. Aufgrund seiner Funktion im allegorischen
Text, wird auch der Prätext neu interpretiert, und seine Relevanz
wird auf den Prüfstand gestellt.
"Sie [die
Allegorie] konstituiert
Geschichtsbewusstsein, Bewusstsein von Kontinuitäten, indem sie
Altes als Neues erzählt und Neues als Altes.“ (S
45)
Text und Praetext überlagern und durchkreuzen sich. Sie
illuminieren sich dabei wechselseitig. Der Text lenkt und
konzentriert die Aufmerksamkeit auf Züge des Praetextes, die sonst
nicht aufgefallen wären. Er modelliert das Verständnis, die
Bewertung und affektive Einstellung auf den Praetext. Er deutet ihn
und deutet ihn daher auch neu. (S. 69)
Aus diesem Wechselspiel zwischen Text und Prätext, ergibt sich das
Potential der Allegorie zur Affirmation von oder Kritik an Diskursen,
z.B. auch zur Kritik an Gesellschafts- und Herrschaftssystemen. Im
Extremfall kann die allegorische Bedeutung so kodiert sein, dass der
Text Inhalte versteckt, die dem Autor gefährlich werden könnten und
die nur von Eingeweihten erschlossen werden können.
Wegen ihrer Abweichung vom alltäglichen Sprachgebrauch hat die
Allegorie immer wieder
den Argwohn erregt, dem Anderen der
Öffentlichkeit – häretischen religiösen
Überlieferungen, politischen Geheimgesellschaften, elitären zirkeln – Vorschub zu
leisten.
Umgekehrt hat es die Allegorie Autoren erlaubt, politisch
riskante Themen in der
Öffentlichkeit lancieren und die
Verantwortung für die anstößige Bedeutung auf die Leser
abzuwälzen.
Haselstein, Allegorie,
DFG-Symposion 2014, S.
338
Typische Erzählmuster, die eine allegorische Deutung initiieren sind
die Suche, die Pilgerfahrt und die Reise einerseits, der Kampf und
das Streitgespräch andererseits. (Kurz S. 51, Fletcher)
Das Theater und das Schiff (Melville Moby Dick) sind beliebte
Metaphernfelder, die sich zur Entwicklung einer allegorischen
Bedeutungsebene eignen.
Beschreibungen von Träumen, Visionen und besonderen Räumen (z.B.
der Garten) initiieren ebenfalls eine allegorische Deutung (Kurz, S.
53).
In der europäischen Literaturgeschichte häufig vorkommende Prätexte
sind Erzählungen aus der Bibel, der griechischen Mythologie und
Heldenepen. (Kurz, S. 45)
Short
bibliography
Fletcher, Angus, 1964.
Allegory: The Theory of a Symbolic Mode. Ithaca NY: Cornell
University Press.
Haselstein, Ulla (Hrsg.) 2016,
Allegorie, DFG-Symposion 2014, Berlin/Boston: De Gruyter.
Kurz, Gerhard (1982/2009)
Metapher, Allegorie, Symbol, Göttingen:
Vandenhoeck, 6. Auflage.
Tambling, Jeremy, 2009,
Allegory, London [u.a.]: Routledge.
1Terminologie
von Quilligan, The Language of Allegory, 1992, zitiert in
Kurz, S. 44.
2Menke,
Bettine, „Allegorie: ‚Ostentation der Faktur‘ und ‚Theorie‘.
Einleitung“, DFG-Symposion 2014, S. 113-135
3Terminologie
von Quilligan, The Language of Allegory, 1992, zitiert in
Kurz, S. 44.
4Nach
Foucault: „Grob vereinfacht meint Foucault mit
Diskurs das in der Sprache aufscheinende Verständnis von
Wirklichkeit der jeweiligen Epoche.“
www.geisteswissenschaften.fu-berlin.de/v/littheo/glossar/diskurs.html
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