Freitag, 19. April 2019

Allegorie (Überblick)

nach Gerhard Kurz Metapher, Allegorie, Symbol, Göttingen: Vandenhoeck, 1982, 6. Auflage 2009

Eine Allegorie ist kein eigenes Genre, sondern ein an erzählende oder beschreibende Texte gebundener Darstellungsmodus. Neben einem ersten, eher offensichtlichen Gegenstand des Erzählens oder Beschreibens (initiale Bedeutung)1 verweisen diese Texte noch auf eine zweite, allegorische Bedeutung wie es durch die Etymologie des Wortes Allegorie, zusammengesetzt aus griechisch άllon und agoreúein – „anderes im öffentlichen Sprechen mit-sagen und ‚eigentlich‘ machen“ (Menke, S. 117) angedeutet wird2.

'Die Allegorie sagt sehr wohl, was sie meint – sie sagt es eben direkt und indirekt. Sie meint, was sie sagt [...], und sie meint damit und dadurch noch etwas anderes [...], auf das es vor allem ankommen kann. S. 38

Allegorische Texte enthalten Schlüsselwörter, Anspielungen auf oder indirekte Zitate aus einem Praetext3, einem Diskurs4 oder chronologisch früheren Text, die die Leser zur (Re-)Konstruktion einer allegorischen Bedeutung anregen (S. 35) - Rekonstruktion, weil die allegorische Bedeutung im Text auf der Signifikantenebene angelegt ist mit der Erwartung, dass die Leser die gegebenen Hinweise verbinden und mit Informationen aus dem Praetext ergänzen können.
Dabei muss die initiale Bedeutung nicht vollständig hinter der allegorischen Bedeutung verschwinden, sondern behält einen Eigenwert (S. 34).

'die initiale Bedeutung wird als eigenständige aufgebaut und in die allegorische aufgelöst, ohne indes ihre (relative) Eigenständigkeit ganz aufzugeben.' S. 34

Die Bezüge können im Text auch explizit ausformuliert (explikative Allegorie) statt nur angedeutet (implikative Allegorie) sein. In diesem Fall verliert die initiale Bedeutung an Relevanz. Dies trifft z.B. für Reinhard Meys Lied "Das Narrenschiff" zu.
Die Kenntnis des der Allegorie zugrunde liegenden Praetextes durch die Leser wird vorausgesetzt.

Der Praetext ist die vorausgehende und vorausgesetzte Bedeutung, das schon Gesagte, Bekannte, das Gewusste und Erinnerbare. S. 45

Der allegorische Text holt den Praetext in die Gegenwart des Lesers. Er stellt sich dadurch in eine kulturgeschichtliche Tradition, wodurch er eine Tiefendimension gewinnt (S. 69). Der Prätext wird auf diese Weise zum Medium, durch das das im allegorischen Text Erzählte reflektiert wird. Aufgrund seiner Funktion im allegorischen Text, wird auch der Prätext neu interpretiert, und seine Relevanz wird auf den Prüfstand gestellt.

"Sie [die Allegorie] konstituiert Geschichtsbewusstsein, Bewusstsein von Kontinuitäten, indem sie Altes als Neues erzählt und Neues als Altes.“ (S 45)

Text und Praetext überlagern und durchkreuzen sich. Sie illuminieren sich dabei wechselseitig. Der Text lenkt und konzentriert die Aufmerksamkeit auf Züge des Praetextes, die sonst nicht aufgefallen wären. Er modelliert das Verständnis, die Bewertung und affektive Einstellung auf den Praetext. Er deutet ihn und deutet ihn daher auch neu. (S. 69)

Aus diesem Wechselspiel zwischen Text und Prätext, ergibt sich das Potential der Allegorie zur Affirmation von oder Kritik an Diskursen, z.B. auch zur Kritik an Gesellschafts- und Herrschaftssystemen. Im Extremfall kann die allegorische Bedeutung so kodiert sein, dass der Text Inhalte versteckt, die dem Autor gefährlich werden könnten und die nur von Eingeweihten erschlossen werden können.

             Wegen ihrer Abweichung vom alltäglichen Sprachgebrauch hat die Allegorie immer wieder  
             den Argwohn erregt, dem Anderen der Öffentlichkeit – häretischen religiösen 
             Überlieferungen, politischen Geheimgesellschaften, elitären zirkeln – Vorschub zu leisten. 
             Umgekehrt hat es die Allegorie Autoren erlaubt, politisch riskante Themen in der
             Öffentlichkeit lancieren und die Verantwortung für die anstößige Bedeutung auf die Leser 
             abzuwälzen.
             Haselstein, Allegorie, DFG-Symposion 2014, S. 338


Literarische Gattungen, die auf der Allegorie als Darstellungsform gründen sind z.B. das Sprichwort, das Rätsel, die Fabel, Gleichnisse und Parabeln. Außerdem finden sich Allegorien in anderen Prosatexten, im Drama und in der Lyrik.

Typische Erzählmuster, die eine allegorische Deutung initiieren sind die Suche, die Pilgerfahrt und die Reise einerseits, der Kampf und das Streitgespräch andererseits. (Kurz S. 51, Fletcher)
Das Theater und das Schiff (Melville Moby Dick) sind beliebte Metaphernfelder, die sich zur Entwicklung einer allegorischen Bedeutungsebene eignen.
Beschreibungen von Träumen, Visionen und besonderen Räumen (z.B. der Garten) initiieren ebenfalls eine allegorische Deutung (Kurz, S. 53).
In der europäischen Literaturgeschichte häufig vorkommende Prätexte sind Erzählungen aus der Bibel, der griechischen Mythologie und Heldenepen. (Kurz, S. 45)



Short bibliography
Fletcher, Angus, 1964. Allegory: The Theory of a Symbolic Mode. Ithaca NY: Cornell University Press.
Haselstein, Ulla (Hrsg.) 2016, Allegorie, DFG-Symposion 2014, Berlin/Boston: De Gruyter.
Kurz, Gerhard (1982/2009) Metapher, Allegorie, Symbol, Göttingen: Vandenhoeck, 6. Auflage.
Tambling, Jeremy, 2009, Allegory, London [u.a.]: Routledge.
1Terminologie von Quilligan, The Language of Allegory, 1992, zitiert in Kurz, S. 44.
2Menke, Bettine, „Allegorie: ‚Ostentation der Faktur‘ und ‚Theorie‘. Einleitung“, DFG-Symposion 2014, S. 113-135
3Terminologie von Quilligan, The Language of Allegory, 1992, zitiert in Kurz, S. 44.
4Nach Foucault: „Grob vereinfacht meint Foucault mit Diskurs das in der Sprache aufscheinende Verständnis von Wirklichkeit der jeweiligen Epoche.“ www.geisteswissenschaften.fu-berlin.de/v/littheo/glossar/diskurs.html

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