Essay über „Linda“
von Gerhard Gundermann
Einige von Gerhard Gundermanns Liedtexten weisen für allegorische Texte typische Gestaltungselemente auf. In meinen Essays zu „Linda“ und zu „Drachentöters Vater“ folge ich den von ihnen ausgehenden Hinweisen für die Interpretation.
Einen Überblick über die Theorie gibt der ebenfalls im Blog
eingestellte Essay „Allegorie“.
Informationen zu Gundermann und seinem Werk findet man z.B. auf
der Homepage
http://gundi.de/gundermann/interviews.shtml
des Vereins Gundermanns Seilschaft e.V.
Staunend und bewegt erzählt der Sprecher in den ersten vier Zeilen
einen Wendepunkt in seinem Leben. Mit der Geburt des Kindes Linda
zieht in sein zuvor als öde erfahrenes Dasein neue Lebensfreude ein.
Seine Fähigkeit zu fühlen und zu lieben kehrt wieder zurück und
eine Zukunftsperspektive eröffnet sich.
Du bist in mein herz gefall´n
wie in ein verlassnes Haus
hast die Fenster und Türen weit aufgerissen
das Licht kann rein und raus.
Der Beginn mit der Anrede „Du“ erzeugt eine Atmosphäre der Nähe
und lässt die Innigkeit der Gefühle spüren, verstärkt noch durch
den Melodieverlauf, der die erste Zeile geradezu in eine Atmosphäre
der Andacht taucht. Wenn der Sprecher diese vier Zeilen am Ende des
Liedes wiederholt, hat er in der Erinnerung noch einmal einen
Tiefpunkt seiner nahen Vergangenheit durchlebt, so dass das Glück
der Gegenwart umso stärker zum Ausdruck kommt.
Die Queste
Auch in den letzten vier Zeilen des Lieds scheint noch einmal die
Vergangenheit als spirituelle Notlage auf, die typische
Ausgangssituation für das Erzählmuster einer Queste. „Vielleicht
kannst du mein Lotse sein“ formuliert den Wunsch des Sprechers nach
Orientierung auf seinem weiteren Lebensweg. Dem Kind Linda wird dabei
die für eine Queste charakteristische
Rolle der Führerfigur
zugewiesen.
Sieht
man den Sprecher als
Protagonisten
einer Queste, so begegnen ihm in
den dargestellten Lebensphasen zwei
einander entgegen gerichtete Kräfte: das
Leben in
seiner Fülle, wie er es in
der Gegenwart erfährt,
repräsentiert durch das Kind
Linda (Strophen 1 und 3) und im Kontrast dazu in der nahen
Vergangenheit, die im Zentrum der zweiten Strophe steht, der Tod.
Die frühere Lebensphase wird durch
Metaphern beschrieben, die an
eine Depression denken lassen.
Das Herz als verlassenes
Haus veranschaulicht
die seelische
Leere. Die
dicke Haut schützt zwar vor Verletzungen, schränkt aber auch
die Fähigkeit zu fühlen und zu empfinden ein.1
Der Sprecher sieht das Leben als Glücksspiel, glaubt also keine
Kontrolle über sein Schicksal zu haben ("Ich wusste wie die
Kugel rollt und war nicht mehr interessiert") und ist
gleichgültig gegenüber dem Tod bis hin zu Selbstmordgedanken.
Das Leben, in der zweiten Strophe symbolisiert durch den Kirschbaum,
der blühen und Früchte tragen kann, erweist sich jedoch als stärker
als der Wunsch zu sterben, auf den die vergrabene Pistole metonymisch
verweist.2
Die Begründung: „weil ich doch hierbleiben muss“ wird hier nicht
ausdrücklich aus der Geburt Lindas abgeleitet, sondern kann sich
auch auf einen davor liegenden Zeitpunkt beziehen. Die genaue
Chronologie der Ereignisse bleibt unbestimmt.
Der eigentliche Stimmungsumschwung, die Wiederkehr von Freude und
Optimismus (das Erscheinen des Weihnachtslands am Horizont des
Möglichen), ist jedoch ganz klar die Folge der Geburt Lindas. Ihre
Ankunft befreit den Sprecher aus der zuvor erfahrenen seelischen
Leere.
Interessant ist, dass er sie nun als Führerfigur für den weiteren
Weg wählt, wo er doch eigentlich der seelischen und spirituellen
Notlage schon entkommen ist.
Das Erzählmuster der Queste, auf das gerade in der dritten und
letzten Strophe angespielt wird, erinnert nun daran, dass die Geburt
des Kindes kein Ende sondern ein Neuanfang mit neuen
Herausforderungen ist. Dass der Sprecher das Kind als Führerfigur
wählt, bestätigt noch einmal, dass er sich für das Leben
entschieden hat, denn durch die Metaphorik ihrer Handlungen („hast
die Fenster und Türen weit aufgerissen“, „hast mich wieder
ausgeschnitten“), die ihre wiederbelebende, regenerierende Wirkung
auf ihn veranschaulicht, erscheint Linda als die Personifikation des
Lebens. „Vielleicht
kannst du …. sein“ deutet
ein vorsichtig tastendes Verhältnis
an,
das sich erst bewähren muss, was
die zwar hoffnungsvolle aber gleichzeitig nachdenkliche Stimmung am
Ende der dritten Liedstrophe erzeugt.3
Die Weihnachtsgeschichte
Die ausdrucksstarke Metapher vom Herzen als verlassenes Haus, in das
mit der Geburt des Kindes neues Leben einzieht, verweist auf die
Weihnachtsgeschichte als Prätext.4
Trotz der Analogie mit der der Liedtext spielt, bleibt die
beschriebene Glückserfahrung von Erlösung und neuem Leben, die
durchaus den Charakter eines Erweckungserlebnisses hat, eine rein
Weltliche. Eine mögliche allegorische, also christliche, Deutung
wird zurückgewiesen, denn er wählt nicht Christus als Führerfigur
(Lotse)5
sondern sein Kind.6
“heim ins Weihnachtsland” deutet an, dass er sich nach der
kindlichen Freude und dem kindlichen Staunen sehnt, das insbesondere
Weihnachten hervorruft.
Dialektik
Die allegorischen Darstellungsformen (Prätext der
Weihnachtsgeschichte und Queste) sind nicht die einzigen
Strukturelemente. Das Verhältnis von Gegenwart, Vergangenheit und
Zukunft entspricht dem von These, Antithese und Synthese.7
Die Depression der Vergangenheit und das Glück der Gegenwart stehen
aber nicht gleichberechtigt nebeneinander. Vielmehr klammern die
erste Strophe, die von der Gegenwart handelt und die 3. Strophe, die
von ihr in die Zukunft überleitet, die überwundene depressive Phase
der Vergangenheit ein.
Humor
Während in den Strophen das emotionale Erleben des Sprechers in
einer überwiegend ernsten Tonlage sehr unmittelbar erfahrbar wird,
dominiert im Refrain ein humorvoller Ton. Dieser deutet auf Distanz
zum Erlebten: Die Krise ist überwunden. Freude, Stolz und fast etwas
wie Übermut kommen auch in der schwungvoll aufsteigenden Melodie zum
Ausdruck. Die Zeilen sind gleichzeitig Ausdruck einer
nicht-materialistischen Weltanschauung, die Gundermann auch in
einigen anderen Liedern und Interviews thematisiert hat.
"Jetzt komm die fetten Tage" beschreibt eine Zeit, in der
alles, was man zum Leben braucht, reichlich vorhanden ist. Die
Metapher wird durch "Wir ham so lang auf dich gespart."
ergänzt, was humorvoll auf ein zumindest karges, wenn nicht ödes
Leben in der Vergangenheit deutet, humorvoll, da die Formulierung
eher an einen begehrten Gegenstand denken lässt als an ein Kind. Da
es das Kind ist, das Reichtum bringt und nicht ein Gegenstand oder
Geld, liegt eine metaphorische Interpretation als seelischer Reichtum
nahe – das Kind selbst macht das Leben reich.8
Die leicht selbstironische Wirkung von „Die Alten sind nochmal am
Start.“ beruht auf der doppelten Bedeutung von „die Alten“,
einmal als umgangssprachliche, eher respektlose Bezeichnung
(konventionalisierte Metapher) für Eltern, zum anderen wörtlich als
die alten Leute, von denen man das eigentlich nicht mehr erwartet hat
und die nun neue Kraft durch ihr Kind gewinnen.
Im Zusammenhang mit dem neuen Leben scheint schon in der ersten
Strophe Humor auf. Dabei wird der poetische Stil der ersten vier
Zeilen in der zweiten Hälfte der Strophe im Zusammenhang mit dem
Wendepunkt im Leben durch umgangssprachliche Ausdrücke und
Redewendungen (z.B. laute Braut", "dicke Haut")
durchbrochen. In der zweiten Strophe wird durch „meine
Pistole war geladen“ ein Spannungsbogen erzeugt, und durch die
Antiklimax "ich hab sie unterm Kirschenbaum vergraben" zum
Zusammenbrechen gebracht.
Das Spiel mit verschiedenen Sprachstilen lässt sich auch in anderen
Gundermann-Liedern beobachten.9
Schlusswort
Das Lied beschreibt also sowohl gefühlvoll als auch humorvoll das
Überwinden einer depressiven Phase des Lebens und den Beginn eines
neuen Lebensabschnitts mit dem Kind Linda, der aber nicht als
konventionelles „happy end“, sondern als eine bevorstehende Suche
dargestellt wird, die von Hoffnung geprägt ist. Entsprechend ist
die Stimmung in der letzten Strophe nicht euphorisch, sondern
nachdenklich-melancholisch.
Das letzte Wort hat jedoch der humorvolle Refrain vom reichen Leben
und dem Neuanfang der Alten.
1Eine
dicke Haut/ein dickes Fell haben ist eine Redensart.
www.redensarten-index.de
2
Das
Instrument zur Selbsttötung steht für die Handlung.
3
Das 'Weihnachtsland',
zu dem das Kind den
Weg weisen kann, ist nicht ein Fest des Friedens in dem in der
ersten Strophe konnotierten Sinn des in
Ruhe gelassen Werdens
und nichts an sich
heran kommen Lassens,
das die dicke Haut
ermöglicht. Die Verwendung des an sich positiv belegten Begriffs
bekommt in diesem Zusammenhang eine ironische Qualität.
4Die
Terminologie geht zurück auf Quilligan, The Language of
Allegory, 1992, zitiert in Kurz, S. 44.
5„Ich
bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.“ (Johannes 14,6)
6
Damit ist „Linda“ ein Beispiel für einen allegorischen Text
in dem die initiale Bedeutung –
der offensichtliche Gegenstand des Erzählens oder Beschreibens -
klar dominiert. Der
Begriff „initiale Bedeutung“ stammt aus Quilligan, The
Language of Allegory,
1992, und wird von Gerhard Kurz, Metapher,
Allegorie, Symbol.
Göttingen: Vandenhoeck, 1982, S. 44 zur Beschreibung der
Funktionsweise allegorischer Texte eingesetzt.
7Dialektischer
Materialismus (siehe Drachentöter)?
8Auch
hier ist ein Verweis auf einen Prätext aus der Bibel möglich, der
Traum des Pharaos von den sieben fetten und sieben mageren Jahren,
den Joseph deutet (1. Mose, 41).
Damit impliziert der
Refrain auch eine nicht-materialistische Lebensauffassung wie z.B.
auch
„und musst du
weinen“.
9David
Robb stellt diesen Umgang mit Sprache, den er sowohl bei ost- als
auch westdeutschen Liedermachern beobachtet, in die Tradition
politischer Lieder der Revolution von 1848. David Robb ed., Protest
Song in East and West Germany since the 1960s, Rochester and
Woodbridge: Camden, 2007, S. 3
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