Freitag, 19. April 2019

„Linda“ - eine Weihnachtsgeschichte

Essay über „Linda“ von Gerhard Gundermann

Einige von Gerhard Gundermanns Liedtexten weisen für allegorische Texte typische Gestaltungselemente auf. In meinen Essays zu „Linda“ und zu „Drachentöters Vater“ folge ich den von ihnen ausgehenden Hinweisen für die Interpretation.
Einen Überblick über die Theorie gibt der ebenfalls im Blog eingestellte Essay „Allegorie“.
Informationen zu Gundermann und seinem Werk findet man z.B. auf der Homepage
http://gundi.de/gundermann/interviews.shtml des Vereins Gundermanns Seilschaft e.V.

Staunend und bewegt erzählt der Sprecher in den ersten vier Zeilen einen Wendepunkt in seinem Leben. Mit der Geburt des Kindes Linda zieht in sein zuvor als öde erfahrenes Dasein neue Lebensfreude ein. Seine Fähigkeit zu fühlen und zu lieben kehrt wieder zurück und eine Zukunftsperspektive eröffnet sich.

           Du bist in mein herz gefall´n
           wie in ein verlassnes Haus
           hast die Fenster und Türen weit aufgerissen
           das Licht kann rein und raus.

Der Beginn mit der Anrede „Du“ erzeugt eine Atmosphäre der Nähe und lässt die Innigkeit der Gefühle spüren, verstärkt noch durch den Melodieverlauf, der die erste Zeile geradezu in eine Atmosphäre der Andacht taucht. Wenn der Sprecher diese vier Zeilen am Ende des Liedes wiederholt, hat er in der Erinnerung noch einmal einen Tiefpunkt seiner nahen Vergangenheit durchlebt, so dass das Glück der Gegenwart umso stärker zum Ausdruck kommt.


Die Queste
Auch in den letzten vier Zeilen des Lieds scheint noch einmal die Vergangenheit als spirituelle Notlage auf, die typische Ausgangssituation für das Erzählmuster einer Queste. „Vielleicht kannst du mein Lotse sein“ formuliert den Wunsch des Sprechers nach Orientierung auf seinem weiteren Lebensweg. Dem Kind Linda wird dabei die für eine Queste charakteristische Rolle der Führerfigur zugewiesen.
Sieht man den Sprecher als Protagonisten einer Queste, so begegnen ihm in den dargestellten Lebensphasen zwei einander entgegen gerichtete Kräfte: das Leben in seiner Fülle, wie er es in der Gegenwart erfährt, repräsentiert durch das Kind Linda (Strophen 1 und 3) und im Kontrast dazu in der nahen Vergangenheit, die im Zentrum der zweiten Strophe steht, der Tod.
Die frühere Lebensphase wird durch Metaphern beschrieben, die an eine Depression denken lassen. Das Herz als verlassenes Haus veranschaulicht die seelische Leere. Die dicke Haut schützt zwar vor Verletzungen, schränkt aber auch die Fähigkeit zu fühlen und zu empfinden ein.1 Der Sprecher sieht das Leben als Glücksspiel, glaubt also keine Kontrolle über sein Schicksal zu haben ("Ich wusste wie die Kugel rollt und war nicht mehr interessiert") und ist gleichgültig gegenüber dem Tod bis hin zu Selbstmordgedanken.
Das Leben, in der zweiten Strophe symbolisiert durch den Kirschbaum, der blühen und Früchte tragen kann, erweist sich jedoch als stärker als der Wunsch zu sterben, auf den die vergrabene Pistole metonymisch verweist.2 Die Begründung: „weil ich doch hierbleiben muss“ wird hier nicht ausdrücklich aus der Geburt Lindas abgeleitet, sondern kann sich auch auf einen davor liegenden Zeitpunkt beziehen. Die genaue Chronologie der Ereignisse bleibt unbestimmt.
Der eigentliche Stimmungsumschwung, die Wiederkehr von Freude und Optimismus (das Erscheinen des Weihnachtslands am Horizont des Möglichen), ist jedoch ganz klar die Folge der Geburt Lindas. Ihre Ankunft befreit den Sprecher aus der zuvor erfahrenen seelischen Leere.
Interessant ist, dass er sie nun als Führerfigur für den weiteren Weg wählt, wo er doch eigentlich der seelischen und spirituellen Notlage schon entkommen ist.
Das Erzählmuster der Queste, auf das gerade in der dritten und letzten Strophe angespielt wird, erinnert nun daran, dass die Geburt des Kindes kein Ende sondern ein Neuanfang mit neuen Herausforderungen ist. Dass der Sprecher das Kind als Führerfigur wählt, bestätigt noch einmal, dass er sich für das Leben entschieden hat, denn durch die Metaphorik ihrer Handlungen („hast die Fenster und Türen weit aufgerissen“, „hast mich wieder ausgeschnitten“), die ihre wiederbelebende, regenerierende Wirkung auf ihn veranschaulicht, erscheint Linda als die Personifikation des Lebens. „Vielleicht kannst du …. sein“ deutet ein vorsichtig tastendes Verhältnis an, das sich erst bewähren muss, was die zwar hoffnungsvolle aber gleichzeitig nachdenkliche Stimmung am Ende der dritten Liedstrophe erzeugt.3


Die Weihnachtsgeschichte
Die ausdrucksstarke Metapher vom Herzen als verlassenes Haus, in das mit der Geburt des Kindes neues Leben einzieht, verweist auf die Weihnachtsgeschichte als Prätext.4 Trotz der Analogie mit der der Liedtext spielt, bleibt die beschriebene Glückserfahrung von Erlösung und neuem Leben, die durchaus den Charakter eines Erweckungserlebnisses hat, eine rein Weltliche. Eine mögliche allegorische, also christliche, Deutung wird zurückgewiesen, denn er wählt nicht Christus als Führerfigur (Lotse)5 sondern sein Kind.6 “heim ins Weihnachtsland” deutet an, dass er sich nach der kindlichen Freude und dem kindlichen Staunen sehnt, das insbesondere Weihnachten hervorruft.


Dialektik
Die allegorischen Darstellungsformen (Prätext der Weihnachtsgeschichte und Queste) sind nicht die einzigen Strukturelemente. Das Verhältnis von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft entspricht dem von These, Antithese und Synthese.7 Die Depression der Vergangenheit und das Glück der Gegenwart stehen aber nicht gleichberechtigt nebeneinander. Vielmehr klammern die erste Strophe, die von der Gegenwart handelt und die 3. Strophe, die von ihr in die Zukunft überleitet, die überwundene depressive Phase der Vergangenheit ein.


Humor
Während in den Strophen das emotionale Erleben des Sprechers in einer überwiegend ernsten Tonlage sehr unmittelbar erfahrbar wird, dominiert im Refrain ein humorvoller Ton. Dieser deutet auf Distanz zum Erlebten: Die Krise ist überwunden. Freude, Stolz und fast etwas wie Übermut kommen auch in der schwungvoll aufsteigenden Melodie zum Ausdruck. Die Zeilen sind gleichzeitig Ausdruck einer nicht-materialistischen Weltanschauung, die Gundermann auch in einigen anderen Liedern und Interviews thematisiert hat.
"Jetzt komm die fetten Tage" beschreibt eine Zeit, in der alles, was man zum Leben braucht, reichlich vorhanden ist. Die Metapher wird durch "Wir ham so lang auf dich gespart." ergänzt, was humorvoll auf ein zumindest karges, wenn nicht ödes Leben in der Vergangenheit deutet, humorvoll, da die Formulierung eher an einen begehrten Gegenstand denken lässt als an ein Kind. Da es das Kind ist, das Reichtum bringt und nicht ein Gegenstand oder Geld, liegt eine metaphorische Interpretation als seelischer Reichtum nahe – das Kind selbst macht das Leben reich.8
Die leicht selbstironische Wirkung von „Die Alten sind nochmal am Start.“ beruht auf der doppelten Bedeutung von „die Alten“, einmal als umgangssprachliche, eher respektlose Bezeichnung (konventionalisierte Metapher) für Eltern, zum anderen wörtlich als die alten Leute, von denen man das eigentlich nicht mehr erwartet hat und die nun neue Kraft durch ihr Kind gewinnen.

Im Zusammenhang mit dem neuen Leben scheint schon in der ersten Strophe Humor auf. Dabei wird der poetische Stil der ersten vier Zeilen in der zweiten Hälfte der Strophe im Zusammenhang mit dem Wendepunkt im Leben durch umgangssprachliche Ausdrücke und Redewendungen (z.B. laute Braut", "dicke Haut") durchbrochen. In der zweiten Strophe wird durch „meine Pistole war geladen“ ein Spannungsbogen erzeugt, und durch die Antiklimax "ich hab sie unterm Kirschenbaum vergraben" zum Zusammenbrechen gebracht.
Das Spiel mit verschiedenen Sprachstilen lässt sich auch in anderen Gundermann-Liedern beobachten.9


Schlusswort
Das Lied beschreibt also sowohl gefühlvoll als auch humorvoll das Überwinden einer depressiven Phase des Lebens und den Beginn eines neuen Lebensabschnitts mit dem Kind Linda, der aber nicht als konventionelles „happy end“, sondern als eine bevorstehende Suche dargestellt wird, die von Hoffnung geprägt ist. Entsprechend ist die Stimmung in der letzten Strophe nicht euphorisch, sondern nachdenklich-melancholisch.
Das letzte Wort hat jedoch der humorvolle Refrain vom reichen Leben und dem Neuanfang der Alten.

1Eine dicke Haut/ein dickes Fell haben ist eine Redensart. www.redensarten-index.de
2 Das Instrument zur Selbsttötung steht für die Handlung.
3 Das 'Weihnachtsland', zu dem das Kind den Weg weisen kann, ist nicht ein Fest des Friedens in dem in der ersten Strophe konnotierten Sinn des in Ruhe gelassen Werdens und nichts an sich heran kommen Lassens, das die dicke Haut ermöglicht. Die Verwendung des an sich positiv belegten Begriffs bekommt in diesem Zusammenhang eine ironische Qualität.
4Die Terminologie geht zurück auf Quilligan, The Language of Allegory, 1992, zitiert in Kurz, S. 44.
5„Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.“ (Johannes 14,6)
6 Damit ist „Linda“ ein Beispiel für einen allegorischen Text in dem die initiale Bedeutung – der offensichtliche Gegenstand des Erzählens oder Beschreibens - klar dominiert. Der Begriff „initiale Bedeutung“ stammt aus Quilligan, The Language of Allegory, 1992, und wird von Gerhard Kurz, Metapher, Allegorie, Symbol. Göttingen: Vandenhoeck, 1982, S. 44 zur Beschreibung der Funktionsweise allegorischer Texte eingesetzt.
7Dialektischer Materialismus (siehe Drachentöter)?
8Auch hier ist ein Verweis auf einen Prätext aus der Bibel möglich, der Traum des Pharaos von den sieben fetten und sieben mageren Jahren, den Joseph deutet (1. Mose, 41).
Damit impliziert der Refrain auch eine nicht-materialistische Lebensauffassung wie z.B. auch
und musst du weinen“.
9David Robb stellt diesen Umgang mit Sprache, den er sowohl bei ost- als auch westdeutschen Liedermachern beobachtet, in die Tradition politischer Lieder der Revolution von 1848. David Robb ed., Protest Song in East and West Germany since the 1960s, Rochester and Woodbridge: Camden, 2007, S. 3

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