Essay über "Drachentöters Vater" (1982) von Gerhard Gundermann
Einige von Gerhard Gundermanns
Liedtexten weisen für allegorische Texte typische
Gestaltungselemente auf. In meinen Essays zu „Linda“ und zu
„Drachentöters Vater“ folge ich den von ihnen ausgehenden
Hinweisen für die Interpretation.
Einen Überblick über die Theorie gibt der ebenfalls im Blog
eingestellte Essay „Allegorie“.
Informationen zu Gundermann und seinem Werk findet man
z.B. auf der Homepage
http://gundi.de/gundermann/interviews.shtml
des Vereins Gundermanns Seilschaft e.V.
Das Lied „Drachentöters Vater“ von 1982 ist die Schimpfrede
eines Vaters anlässlich der Rückkehr seines Sohnes, des
Drachentöters, von seiner offensichtlich fehlgeschlagenen Mission
(„verhinderter Held“). In vier Strophen hält der Vater dem Sohn
den Spiegel vor und macht ihn für sein Scheitern verantwortlich. Die
dadurch erfolgte Demütigung macht den jungen Mann wütend, sodass
der Vater sich seinem Hass erfüllten Sohn gegenübersieht, worauf er
unerwartet ankündigt mit diesem in einen neuen Kampf zu ziehen.
Auf den ersten Blick rührte mich diese Wendung sehr. Sie erschien
mir als ein starker Ausdruck der väterlichen Liebe und der
vorausgehende Schwall von Vorwürfen als das Hervorbrechen
angestauter Sorge um den Sohn. Bei genauerer Betrachtung ist die
Abfolge von Anklage und Zuwendung aber nicht so spontan wie sie zu
sein scheint, denn die Rede ist kunstvoll strukturiert, was darauf
hinweist, dass sie ein Mittel zu einem Zweck ist. Die dem Liedtext
unterliegenden allegorischen Erzählmuster sowie die Rhetorik des
Vaters unterstützen diese Interpretation.
Allegorische Erzählung
Der Titel „Drachentöters Vater“ ist der erste in einer Reihe von
Hinweisen, die eine allegorische Interpretation nahelegen. Er
verweist auf das aus der Heldendichtung überlieferte allegorische
Erzählmuster der Queste. Der Sohn ist der Held, der auszog um auf
seiner Reise schwierige Aufgaben zu bewältigen und gegen das Böse
zu kämpfen mit dem Ziel bei der Rückkehr gesellschaftliche
Anerkennung zu bekommen.
Die Konfrontation des Sohns durch den Vater deutet auf das
allegorische Erzählmuster des Streitgesprächs hin, das in dem Lied
jedoch einseitig vom Vater geführt wird. Die einzige Erwiderung des
Sohnes besteht in einem Blick, der kalt und hasserfüllt ist, nachdem
ihm die gesuchte Anerkennung verweigert wurde.
Die Weltanschauungen, für die Vater und Sohn stehen, lassen sich aus
der Schimpfrede rekonstruieren. Aus der Perspektive des Vaters
erscheint der Sohn als Idealist. Die Bezeichnung „Drachentöter“
ist eine Anspielung auf die Legende vom Heiligen Georg
(Drachentöter), der sich durch mutigen Kampf gegen das Böse
(versinnbildlicht in der Figur des Drachens) und durch die
Bereitschaft für seinen Glauben zu leiden, auszeichnete.1
Der Vater kritisiert den Sohn dafür, dass er die Welt verändern
wollte („die kopfstehende Welt umdrehen“) und wirft ihm vor die
damit verbundenen Gefahren ignoriert zu haben.
Die Argumente des Vaters sind Ausdruck einer eher materialistischen
Weltanschauung. Er hebt die Hindernisse auf dem Weg und die
Verletzungen, die der Sohn davongetragen hat, hervor und kommt zu dem
Schluss, dass sich das Abenteuer nicht gelohnt hat. Aus seiner Sicht
ist der Sohn gescheitert, weil er seine Ziele viel zu hoch gesteckt
(„die kopfstehende Welt umdrehen“, „die Sonne zu hissen“),
sich selbst überschätzt und die Schwierigkeit seiner Aufgabe und
seinen Gegner unterschätzt hat („all die Steine im Weg zerfallen
zu Staub“, „und böse Drachen wärn … mehr was zum Lachen“).
Er macht seinem Sohn klar, dass sein Idealismus letztlich nur zu
seinem Zusammenbruch mit den Symptomen eines Burnouts führte („Die
Seele erfriert und am Ende die Kraft“).
Statt die Anstrengungen des Sohnes anzuerkennen wie es der Konvention
der Heldendichtung entspricht und damit seine Erwartungen zu
erfüllen, verurteilt er sie bis er sich schließlich dem
hasserfüllten Blick des Sohnes ausgesetzt sieht, der ihn schmerzt.
Wenn er den Sohn zur Einsicht bringen wollte, hat er nun genau das
Gegenteil erreicht, er hat ihn gegen sich aufgebracht und versucht
nun mit dem Verweis auf sein Alter in der Tradition der Topoi der
Altersklage („ich bin fast ein Greis“) und des Alterslobs („ich
bin schon weise“) ein Einlenken des Sohnes zu erreichen.
Da der Liedtext eine Rede (bis einschließlich Strophe 4 eine
Schimpfrede) ist, sind auch die poetischen und rhetorischen
Stilmittel für die Charakterisierung des Sprechers und seines
Verhältnisses zu seinem Sohn relevant.
Rhetorische
Analyse
Der Titel „Drachentöters Vater“ ist auch ein Hinweis darauf,
dass der Liedtext ein Rollengedicht ist, d.h., dass die Figur des
Vaters im Zentrum des Interesses steht.2
Im Monolog des Vaters wird die Vater-Sohn Konstellation mit den
Worten „Nun stehst du vor mir“ zu Beginn der Strophen 1, 3 und 5
leitmotivisch vor Augen geführt, gefolgt von einer Beschreibung des
körperlichen und seelischen Zustands des Sohns aus der Sicht des
Vaters.
Die Strophen 2 und 4 sind durch parallele Syntax miteinander
verbunden. Ihre erste Verszeile leitet jeweils eine rhetorische Frage
ein („Ja hast du gedacht/geglaubt…) , mit der der Vater dem Sohn
die möglichen Illusionen vor Augen führt, die ihn zu seinem Auszug
bewegt haben könnten.
Die auffällige Dichte an poetischen und rhetorischen Stilmitteln
steht im Gegensatz zu der materialistischen Weltanschauung des
Vaters, welcher sich sich ja ganz auf die Bilanz des Abenteuers
konzentriert, wozu eine sachlichere rhetorisch sparsamere Redeweise
passen würde.
Mit hyperbolischen Metaphern weist er auf die Fehleinschätzungen des
Sohnes hin. Die Bilder stammen aus dem kosmischen Bereich („die
Sonne zu hissen“, „zu den Wolken gestartet“) und aus den Genres
der Heldensage und des Märchens („und böse Drachen“). Sie
lassen das Abenteuer im Rückblick als geradezu größenwahnsinnig
erscheinen („Ja hast du gedacht es
wird wie ein Fest“, „du solltest doch wissen, es ist kein Spiel“,
„und böse Drachen wärn feige und faul“).
Über vier Strophen führt der Vater
dem Sohn sein Versagen detailreich
vor Augen, unterstrichen
durch eine hohe Dichte an Stilmitteln – Parallelismus auch
innerhalb der Strophen, Binnenreime, Assonanzen und Alliterationen.
Der überladene Stil seiner Rede lässt den Vater
selbstbezogen und daher blind für die Bedürfnisse des Sohnes
erscheinen. Als Vergleichstext (möglichen Prätext) mit einem
vorbildlichen Vater könnte man das Gleichnis vom Verlorenen Sohn
anführen, in dem der Vater den zurückkehrenden Sohn mit großer
Freude empfängt (Lukas Kapitel 15, 11-24).
Dialektik
Die letzte Strophe mit dem Plan sich noch einmal gemeinsam auf den
Weg zu machen („ich werde mitgehn“) wirkt nach der Schimpfrede
wie ein Versöhnungsangebot. Nach der Theorie des dialektischen
Materialismus stellt die implizite Aufforderung des Vaters die
Synthese da, die aus der antithetischen Konstellation der
Weltanschauungen von Vater und Sohn folgen muss.3
Einerseits impliziert „Ich werde mitgehn“, dass der Vater
die Ziele seines Sohns zu seinen eigenen macht. Seine Worte scheinen
seine Bereitschaft sein Leben für seinen Sohn zu opfern
auszudrücken, auf den ersten Blick also eine noble Geste.
Andererseits lässt der Vater den Sohn gar nicht zu Wort kommen. Er
scheint ihn eher als Marionette zu behandeln als als Mensch mit
seinen eigenen Vorstellungen und Zielen. Indem er die Führungsrolle
einnimmt, nimmt er auch eine bevormundende oder sogar bestimmende
Haltung gegenüber seinem Sohn ein auf Kosten von dessen
Unabhängigkeit („und zwar vor dir her.“).
Diese Interpretation führt zu der Frage zurück, welche Funktion die
Rede als Ganzes einnimmt. Wenn man annimmt, dass der Vater von Anfang
an mit ihr ein eigenes Ziel verfolgt, erscheint die erbarmungslose
Kritik an seinem Sohn als Mittel zum Zweck. Er soll sich so wertlos
fühlen, dass er am Ende das Angebot eines gemeinsamen Abenteuers im
Sinne des Vaters dankbar annimmt.
Initiale und allegorische Bedeutung
Vor dem Hintergrund dieser allegorischen Deutung fragt es sich, wie
es dann zu meinem ersten Eindruck kommen konnte. Er ist nicht
falsch, sondern entspricht der initialen Bedeutung des Liedtexts.
Initiale und allegorische Bedeutung verhalten sich wie ein Vexierbild
(z.B. Kaninchen - Ente). Hat man das eine Bild vor Augen, „verliert“
man das andere und umgekehrt. Hat sich das andere vor dem Auge
konstituiert, kann man das erste nicht mehr sehen.
Im Liedtext kippt das gutmütige Schimpfen und die noble väterliche
Aufopferung der initialen Bedeutung durch allegorische Deutung über
in eine überrumpelnde Machtstrategie. Welches Bild sichtbar wird, ob
tatsächlich eine Entlarvung der Machtstrategie erfolgt, hängt vom
Leser ab.4
Der Liedtext von „Drachentöters Vater“ hat seine Wurzeln sicher
in Lebenserfahrungen des Autors. Die Vater-Sohn-Konstellation kann
aber auch als allegorische Darstellung typischer gesellschaftlicher
Machtverhältnisse interpretiert werden.
Mögliche biographische und soziohistorische Bezüge
Gerhard Gundermann gehörte zu den Künstlern, die an die Ideale des
Sozialismus glaubten, aber mit seiner Verwirklichung in der DDR
unzufrieden waren. Es ist gut möglich, dass die allegorische
Erzählung von „Drachentöters Vater“ ihre Wurzeln in den
Auseinandersetzungen hat, die er als junger Mann in den 70er und 80er
Jahren mit den Vertretern von Partei und Staat über diese
offensichtliche Diskrepanz geführt hat.5
Er kritisierte zum Beispiel die Verhältnisse im Braunkohlebergbau
und machte Verbesserungsvorschläge sowohl zur Steigerung der
Produktivität als auch zur Verminderung der Sicherheitsrisiken für
die Bergleute. Seine Rolle in „Drachentöters Vater“ wäre also
die des idealistischen Sohns – St. Georg, auf den der Titel
anspielt, ist unter anderem der Schutzheilige der Bergleute –
während der Vater die Parteifunktionäre repräsentiert. Die
allegorische Darstellungsform ist also das Resultat eines hohen
Grades an Abstraktion im Verlauf der Verarbeitung des Konflikts,
wobei diese Abstraktion eine Verschlüsselung und damit eine
indirekte Kritik an den Verhältnissen ermöglichte.6
Der Wunsch mehr Einfluss auf die Entwicklung der Gesellschaft in der
DDR nehmen zu können, war für ihn auch ein Motiv für seine
Stasimitarbeit. In diesem Zusammenhang könnte die
Vater-Sohn-Beziehung im Lied auch als allegorische Darstellung seines
inneren Konflikts interpretiert werden.7
Im „Drachentöter“ steckt sicher auch eine Anspielung auf
Gundermanns Jugendtraum ein
ein Held zu sein und für die sozialistischen Revolutionen in
Mittelamerika zu kämpfen. „Chile 73, da wollte ich sofort hin.““8
Aktualität
Der Liedtext ist eine auch heute noch aktuelle Darstellung von
Machtverhältnissen, die auf den Punkt bringt wie Konflikte zwischen
Vertretern der Realpolitik und Weltverbesserern in der Regel
verlaufen.
Das neueste Beispiel ist die Reaktion einiger Politiker auf die
„Fridays for Future“ Demonstrationen. Der Rat doch den „Experten“
zu vertrauen oder sich in politischen Parteien zu engagieren, ist wie
das Angebot des Vaters im Lied - „Ich werde mitgehn und zwar vor
dir her.“ - ein Versuch die Protestierenden auf Linie zu bringen um
das berechtigte Anliegen wieder in den Hintergrund zu drängen und
wie bisher weiter machen zu können.
Auch die Machtverhältnisse bei der Wiedervereinigung Deutschlands
1990, die zur eins zu eins Übernahme des westlichen Gesellschafts-
und Wirtschaftsmodells führten bei gleichzeitigem Versprechen
„blühender Landschaften“ durch Bundeskanzler Helmut Kohl,
entsprechen der Vater-Sohn-Konstellation des Lieds. Gundermann
gehörte zu denjenigen, die von dieser Entwicklung enttäuscht waren.
1Die
Legende vom Heiligen Georg wäre also ein möglicher Prätext
nach Quilligan
(Kurz, S. 44).
2
Die
folgende Definition von
“Rollengedicht” wird
baldmöglichst durch eine Wissenschaftlichere ersetzt. “Ein
Rollengedicht
ist eine (weitgehend historische) Form des Gedichts, in dem das
lyrische Ich die Rolle einer Figur übernimmt, wodurch die
Rede dieser Figur in den Mund gelegt wird. Nicht selten verweist
bereits der Titel des Gedichts auf die „sprechende“ Person.
Häufige Rollen sind Knaben, Schäfer, Wanderer und Figuren aus der
Mythologie
.
de.wikipedia.org/wiki/Rollengedicht
3Der
dialektische Materialismus war ein Fundament der Staatsideologie der
DDR. de.wikipedia.org/wiki/Dialektischer_Materialismus).
4
„Umgekehrt hat es die Allegorie Autoren erlaubt, politisch
riskante Themen in der Öffentlichkeit zu lancieren
und die Verantwortung
für die anstößige Bedeutung auf die Leser abzuwälzen.“
Haselstein, Allegorie,
DFG-Symposion 2014, S.
338
5
David Robb
stellt
fest, dass die Diskrepanz zwischen Utopie
und
Realität des
Sozialismus ein
wichtiges Motiv für Liedermacher in der DDR war. David Robb ed.,
Protest
song in East and West Germany since the 1960s, Rochester:
Camden House, 2007, S.
4
6Die
Äußerungen Gundermanns zu den Rollen der Arbeiter und der Leiter
im Produktionsprozess weisen einen hohen Grad an Abstraktion auf
(„Da müssen wir wohl die Füsse bemühn“, Interview mit Gerhard
Gundermann, FDJ-Singe No 17, aus dem Archiv ohne Jahresangabe, aber
auf jeden Fall vor 1989).
7
In der spätmittelalterlichen
und frühneuzeitlichen europäischen Literatur sind
allegorische Erzählungen
typischerweise Repräsentationen innerseelischer
Kämpfe der handelnden
Figuren in Weiterentwicklung der spätantiken Psychomachia
von Prudentius aus dem
5. Jahrhundert n.Chr. Tambling
S. 48-49
(Jeremy Tambling,
Allegory, London
[u.a.]: Routledge, 2009)
8„Da
müssen wir wohl die Füsse bemühn“, Interview mit Gerhard
Gundermann, FDJ-Singe No 17
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