Freitag, 19. April 2019

"Drachentöters Vater" - Allegorie der Macht

Essay über "Drachentöters Vater" (1982) von Gerhard Gundermann

Einige von Gerhard Gundermanns Liedtexten weisen für allegorische Texte typische Gestaltungselemente auf. In meinen Essays zu „Linda“ und zu „Drachentöters Vater“ folge ich den von ihnen ausgehenden Hinweisen für die Interpretation.
Einen Überblick über die Theorie gibt der ebenfalls im Blog eingestellte Essay „Allegorie“.
Informationen zu Gundermann und seinem Werk findet man z.B. auf der Homepage
http://gundi.de/gundermann/interviews.shtml des Vereins Gundermanns Seilschaft e.V.

Das Lied „Drachentöters Vater“ von 1982 ist die Schimpfrede eines Vaters anlässlich der Rückkehr seines Sohnes, des Drachentöters, von seiner offensichtlich fehlgeschlagenen Mission („verhinderter Held“). In vier Strophen hält der Vater dem Sohn den Spiegel vor und macht ihn für sein Scheitern verantwortlich. Die dadurch erfolgte Demütigung macht den jungen Mann wütend, sodass der Vater sich seinem Hass erfüllten Sohn gegenübersieht, worauf er unerwartet ankündigt mit diesem in einen neuen Kampf zu ziehen.
Auf den ersten Blick rührte mich diese Wendung sehr. Sie erschien mir als ein starker Ausdruck der väterlichen Liebe und der vorausgehende Schwall von Vorwürfen als das Hervorbrechen angestauter Sorge um den Sohn. Bei genauerer Betrachtung ist die Abfolge von Anklage und Zuwendung aber nicht so spontan wie sie zu sein scheint, denn die Rede ist kunstvoll strukturiert, was darauf hinweist, dass sie ein Mittel zu einem Zweck ist. Die dem Liedtext unterliegenden allegorischen Erzählmuster sowie die Rhetorik des Vaters unterstützen diese Interpretation.


Allegorische Erzählung
Der Titel „Drachentöters Vater“ ist der erste in einer Reihe von Hinweisen, die eine allegorische Interpretation nahelegen. Er verweist auf das aus der Heldendichtung überlieferte allegorische Erzählmuster der Queste. Der Sohn ist der Held, der auszog um auf seiner Reise schwierige Aufgaben zu bewältigen und gegen das Böse zu kämpfen mit dem Ziel bei der Rückkehr gesellschaftliche Anerkennung zu bekommen.
Die Konfrontation des Sohns durch den Vater deutet auf das allegorische Erzählmuster des Streitgesprächs hin, das in dem Lied jedoch einseitig vom Vater geführt wird. Die einzige Erwiderung des Sohnes besteht in einem Blick, der kalt und hasserfüllt ist, nachdem ihm die gesuchte Anerkennung verweigert wurde.

Die Weltanschauungen, für die Vater und Sohn stehen, lassen sich aus der Schimpfrede rekonstruieren. Aus der Perspektive des Vaters erscheint der Sohn als Idealist. Die Bezeichnung „Drachentöter“ ist eine Anspielung auf die Legende vom Heiligen Georg (Drachentöter), der sich durch mutigen Kampf gegen das Böse (versinnbildlicht in der Figur des Drachens) und durch die Bereitschaft für seinen Glauben zu leiden, auszeichnete.1 Der Vater kritisiert den Sohn dafür, dass er die Welt verändern wollte („die kopfstehende Welt umdrehen“) und wirft ihm vor die damit verbundenen Gefahren ignoriert zu haben.
Die Argumente des Vaters sind Ausdruck einer eher materialistischen Weltanschauung. Er hebt die Hindernisse auf dem Weg und die Verletzungen, die der Sohn davongetragen hat, hervor und kommt zu dem Schluss, dass sich das Abenteuer nicht gelohnt hat. Aus seiner Sicht ist der Sohn gescheitert, weil er seine Ziele viel zu hoch gesteckt („die kopfstehende Welt umdrehen“, „die Sonne zu hissen“), sich selbst überschätzt und die Schwierigkeit seiner Aufgabe und seinen Gegner unterschätzt hat („all die Steine im Weg zerfallen zu Staub“, „und böse Drachen wärn … mehr was zum Lachen“). Er macht seinem Sohn klar, dass sein Idealismus letztlich nur zu seinem Zusammenbruch mit den Symptomen eines Burnouts führte („Die Seele erfriert und am Ende die Kraft“).
Statt die Anstrengungen des Sohnes anzuerkennen wie es der Konvention der Heldendichtung entspricht und damit seine Erwartungen zu erfüllen, verurteilt er sie bis er sich schließlich dem hasserfüllten Blick des Sohnes ausgesetzt sieht, der ihn schmerzt. Wenn er den Sohn zur Einsicht bringen wollte, hat er nun genau das Gegenteil erreicht, er hat ihn gegen sich aufgebracht und versucht nun mit dem Verweis auf sein Alter in der Tradition der Topoi der Altersklage („ich bin fast ein Greis“) und des Alterslobs („ich bin schon weise“) ein Einlenken des Sohnes zu erreichen.
Da der Liedtext eine Rede (bis einschließlich Strophe 4 eine Schimpfrede) ist, sind auch die poetischen und rhetorischen Stilmittel für die Charakterisierung des Sprechers und seines Verhältnisses zu seinem Sohn relevant.


Rhetorische Analyse
Der Titel „Drachentöters Vater“ ist auch ein Hinweis darauf, dass der Liedtext ein Rollengedicht ist, d.h., dass die Figur des Vaters im Zentrum des Interesses steht.2
Im Monolog des Vaters wird die Vater-Sohn Konstellation mit den Worten „Nun stehst du vor mir“ zu Beginn der Strophen 1, 3 und 5 leitmotivisch vor Augen geführt, gefolgt von einer Beschreibung des körperlichen und seelischen Zustands des Sohns aus der Sicht des Vaters.

Die Strophen 2 und 4 sind durch parallele Syntax miteinander verbunden. Ihre erste Verszeile leitet jeweils eine rhetorische Frage ein („Ja hast du gedacht/geglaubt…) , mit der der Vater dem Sohn die möglichen Illusionen vor Augen führt, die ihn zu seinem Auszug bewegt haben könnten.
Die auffällige Dichte an poetischen und rhetorischen Stilmitteln steht im Gegensatz zu der materialistischen Weltanschauung des Vaters, welcher sich sich ja ganz auf die Bilanz des Abenteuers konzentriert, wozu eine sachlichere rhetorisch sparsamere Redeweise passen würde.
Mit hyperbolischen Metaphern weist er auf die Fehleinschätzungen des Sohnes hin. Die Bilder stammen aus dem kosmischen Bereich („die Sonne zu hissen“, „zu den Wolken gestartet“) und aus den Genres der Heldensage und des Märchens („und böse Drachen“). Sie lassen das Abenteuer im Rückblick als geradezu größenwahnsinnig erscheinen („Ja hast du gedacht es wird wie ein Fest“, „du solltest doch wissen, es ist kein Spiel“, „und böse Drachen wärn feige und faul“).
Über vier Strophen führt der Vater dem Sohn sein Versagen detailreich vor Augen, unterstrichen durch eine hohe Dichte an Stilmitteln – Parallelismus auch innerhalb der Strophen, Binnenreime, Assonanzen und Alliterationen. Der überladene Stil seiner Rede lässt den Vater selbstbezogen und daher blind für die Bedürfnisse des Sohnes erscheinen. Als Vergleichstext (möglichen Prätext) mit einem vorbildlichen Vater könnte man das Gleichnis vom Verlorenen Sohn anführen, in dem der Vater den zurückkehrenden Sohn mit großer Freude empfängt (Lukas Kapitel 15, 11-24).


Dialektik
Die letzte Strophe mit dem Plan sich noch einmal gemeinsam auf den Weg zu machen („ich werde mitgehn“) wirkt nach der Schimpfrede wie ein Versöhnungsangebot. Nach der Theorie des dialektischen Materialismus stellt die implizite Aufforderung des Vaters die Synthese da, die aus der antithetischen Konstellation der Weltanschauungen von Vater und Sohn folgen muss.3 Einerseits impliziert „Ich werde mitgehn“, dass der Vater die Ziele seines Sohns zu seinen eigenen macht. Seine Worte scheinen seine Bereitschaft sein Leben für seinen Sohn zu opfern auszudrücken, auf den ersten Blick also eine noble Geste. Andererseits lässt der Vater den Sohn gar nicht zu Wort kommen. Er scheint ihn eher als Marionette zu behandeln als als Mensch mit seinen eigenen Vorstellungen und Zielen. Indem er die Führungsrolle einnimmt, nimmt er auch eine bevormundende oder sogar bestimmende Haltung gegenüber seinem Sohn ein auf Kosten von dessen Unabhängigkeit („und zwar vor dir her.“).
Diese Interpretation führt zu der Frage zurück, welche Funktion die Rede als Ganzes einnimmt. Wenn man annimmt, dass der Vater von Anfang an mit ihr ein eigenes Ziel verfolgt, erscheint die erbarmungslose Kritik an seinem Sohn als Mittel zum Zweck. Er soll sich so wertlos fühlen, dass er am Ende das Angebot eines gemeinsamen Abenteuers im Sinne des Vaters dankbar annimmt.

Initiale und allegorische Bedeutung
Vor dem Hintergrund dieser allegorischen Deutung fragt es sich, wie es dann zu meinem ersten Eindruck kommen konnte. Er ist nicht falsch, sondern entspricht der initialen Bedeutung des Liedtexts. Initiale und allegorische Bedeutung verhalten sich wie ein Vexierbild (z.B. Kaninchen - Ente). Hat man das eine Bild vor Augen, „verliert“ man das andere und umgekehrt. Hat sich das andere vor dem Auge konstituiert, kann man das erste nicht mehr sehen.
Im Liedtext kippt das gutmütige Schimpfen und die noble väterliche Aufopferung der initialen Bedeutung durch allegorische Deutung über in eine überrumpelnde Machtstrategie. Welches Bild sichtbar wird, ob tatsächlich eine Entlarvung der Machtstrategie erfolgt, hängt vom Leser ab.4

Der Liedtext von „Drachentöters Vater“ hat seine Wurzeln sicher in Lebenserfahrungen des Autors. Die Vater-Sohn-Konstellation kann aber auch als allegorische Darstellung typischer gesellschaftlicher Machtverhältnisse interpretiert werden.

Mögliche biographische und soziohistorische Bezüge
Gerhard Gundermann gehörte zu den Künstlern, die an die Ideale des Sozialismus glaubten, aber mit seiner Verwirklichung in der DDR unzufrieden waren. Es ist gut möglich, dass die allegorische Erzählung von „Drachentöters Vater“ ihre Wurzeln in den Auseinandersetzungen hat, die er als junger Mann in den 70er und 80er Jahren mit den Vertretern von Partei und Staat über diese offensichtliche Diskrepanz geführt hat.5 Er kritisierte zum Beispiel die Verhältnisse im Braunkohlebergbau und machte Verbesserungsvorschläge sowohl zur Steigerung der Produktivität als auch zur Verminderung der Sicherheitsrisiken für die Bergleute. Seine Rolle in „Drachentöters Vater“ wäre also die des idealistischen Sohns – St. Georg, auf den der Titel anspielt, ist unter anderem der Schutzheilige der Bergleute – während der Vater die Parteifunktionäre repräsentiert. Die allegorische Darstellungsform ist also das Resultat eines hohen Grades an Abstraktion im Verlauf der Verarbeitung des Konflikts, wobei diese Abstraktion eine Verschlüsselung und damit eine indirekte Kritik an den Verhältnissen ermöglichte.6
Der Wunsch mehr Einfluss auf die Entwicklung der Gesellschaft in der DDR nehmen zu können, war für ihn auch ein Motiv für seine Stasimitarbeit. In diesem Zusammenhang könnte die Vater-Sohn-Beziehung im Lied auch als allegorische Darstellung seines inneren Konflikts interpretiert werden.7
Im „Drachentöter“ steckt sicher auch eine Anspielung auf Gundermanns Jugendtraum ein
ein Held zu sein und für die sozialistischen Revolutionen in Mittelamerika zu kämpfen. „Chile 73, da wollte ich sofort hin.““8

Aktualität
Der Liedtext ist eine auch heute noch aktuelle Darstellung von Machtverhältnissen, die auf den Punkt bringt wie Konflikte zwischen Vertretern der Realpolitik und Weltverbesserern in der Regel verlaufen.
Das neueste Beispiel ist die Reaktion einiger Politiker auf die „Fridays for Future“ Demonstrationen. Der Rat doch den „Experten“ zu vertrauen oder sich in politischen Parteien zu engagieren, ist wie das Angebot des Vaters im Lied - „Ich werde mitgehn und zwar vor dir her.“ - ein Versuch die Protestierenden auf Linie zu bringen um das berechtigte Anliegen wieder in den Hintergrund zu drängen und wie bisher weiter machen zu können.
Auch die Machtverhältnisse bei der Wiedervereinigung Deutschlands 1990, die zur eins zu eins Übernahme des westlichen Gesellschafts- und Wirtschaftsmodells führten bei gleichzeitigem Versprechen „blühender Landschaften“ durch Bundeskanzler Helmut Kohl, entsprechen der Vater-Sohn-Konstellation des Lieds. Gundermann gehörte zu denjenigen, die von dieser Entwicklung enttäuscht waren.



1Die Legende vom Heiligen Georg wäre also ein möglicher Prätext nach Quilligan (Kurz, S. 44).
2 Die folgende Definition von “Rollengedicht” wird baldmöglichst durch eine Wissenschaftlichere ersetzt. “Ein Rollengedicht ist eine (weitgehend historische) Form des Gedichts, in dem das lyrische Ich die Rolle einer Figur übernimmt, wodurch die Rede dieser Figur in den Mund gelegt wird. Nicht selten verweist bereits der Titel des Gedichts auf die „sprechende“ Person. Häufige Rollen sind Knaben, Schäfer, Wanderer und Figuren aus der Mythologie . de.wikipedia.org/wiki/Rollengedicht
3Der dialektische Materialismus war ein Fundament der Staatsideologie der DDR. de.wikipedia.org/wiki/Dialektischer_Materialismus).
4 „Umgekehrt hat es die Allegorie Autoren erlaubt, politisch riskante Themen in der Öffentlichkeit zu lancieren
und die Verantwortung für die anstößige Bedeutung auf die Leser abzuwälzen.“
Haselstein, Allegorie, DFG-Symposion 2014, S. 338
5 David Robb stellt fest, dass die Diskrepanz zwischen Utopie und Realität des Sozialismus ein wichtiges Motiv für Liedermacher in der DDR war. David Robb ed., Protest song in East and West Germany since the 1960s, Rochester: Camden House, 2007, S. 4
6Die Äußerungen Gundermanns zu den Rollen der Arbeiter und der Leiter im Produktionsprozess weisen einen hohen Grad an Abstraktion auf („Da müssen wir wohl die Füsse bemühn“, Interview mit Gerhard Gundermann, FDJ-Singe No 17, aus dem Archiv ohne Jahresangabe, aber auf jeden Fall vor 1989).
7 In der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen europäischen Literatur sind allegorische Erzählungen typischerweise Repräsentationen innerseelischer Kämpfe der handelnden Figuren in Weiterentwicklung der spätantiken Psychomachia von Prudentius aus dem 5. Jahrhundert n.Chr. Tambling S. 48-49 (Jeremy Tambling, Allegory, London [u.a.]: Routledge, 2009)

8„Da müssen wir wohl die Füsse bemühn“, Interview mit Gerhard Gundermann, FDJ-Singe No 17

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